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Pflege zwischen Hingabe und Selbstfürsorge

Writer: ignatius oundeignatius ounde



Es war ein typischer Dienstag im Spätdienst. Lisa, meine neue Kollegin, erst seit einem Jahr in der Pflege, eilte zum dritten Mal innerhalb einer Stunde zu Frau Weber – einer 78-jährigen Patientin mit Oberschenkelhalsbruch. Obwohl die Physiotherapeutin ausdrücklich betont hatte, dass Frau Weber das Aufstehen selbst üben sollte, sprang Lisa sofort auf, um ihr zu helfen.

„Lisa, darf ich dir etwas sagen?“, fragte ich behutsam, nachdem wir Frau Weber versorgt hatten. „Du meinst es gut, aber manchmal hilfst du den Patient:innen mehr, wenn du ihnen Raum für ihre eigene Selbstständigkeit gibst.“ In Lisas Augen spiegelte sich Erstaunen – und eine erste Einsicht. „Aber ich dachte immer, eine gute Pflegekraft ist jederzeit bereit zu helfen“, entgegnete sie.

Ihre Worte berührten mich tief. Ich erkannte mich selbst darin wieder – so, wie ich vor vielen Jahren war. Auch ich glaubte, dass ständige Verfügbarkeit und unermüdliche Hilfsbereitschaft das Wesen guter Pflege ausmacht. Doch mit der Zeit begriff ich: Wer immer alles gibt, gerät unweigerlich in die Erschöpfung.

 

Die Gratwanderung zwischen Engagement und Überforderung

Seit über 20 Jahren arbeite ich in der Pflege – ein Beruf, der mich erfüllt, aber mich auch oft an meine Grenzen gebracht hat. Anfangs war mein Antrieb klar: Ich wollte helfen, gebraucht werden, etwas bewirken. Doch in meinem Innersten spielte auch der Wunsch nach Anerkennung eine Rolle. Während meiner Ausbildung in Tansania übernahm ich freiwillig Nachtdienste (Insomnie lass sich grüssen)  in der Kinderklinik, legte Infusionen und trainierte intensiv den Umgang mit PVK/Viggo. Ich wollte meine Fähigkeiten perfektionieren – und tat es oft auf Kosten meiner eigenen Erholung.

Doch irgendwann merkte ich, dass mein ständiges Einspringen, Überstunden und das Zurückstellen meiner eigenen Bedürfnisse nicht nur mich belasteten, sondern auch die Qualität meiner Arbeit beeinträchtigten.

Das sogenannte Helfersyndrom ist in der Pflege weit verbreitet. Wer sich nur über seinen Einsatz für andere definiert, zahlt langfristig einen hohen Preis – körperlich, emotional und beruflich. Lange hielt ich es für normal, Pausen ausfallen zu lassen oder auf Freizeit zu verzichten. Aber irgendwann wurde mir klar: Ich kann nur dann gut für andere sorgen, wenn ich selbst auf mich achte.

Pflege ist ein Marathon, kein Sprint. Ich habe Kolleg:innen erlebt, die sich völlig verausgabt haben und dann den Beruf aufgeben mussten. Auch ich stand kurz davor. Ein Schlüsselmoment war die Erkenntnis, dass meine übertriebene Fürsorge manchen Patient:innen mehr schadete als half. Indem ich alles abnahm, nahm ich ihnen auch die Chance, selbstständiger zu werden.

 




Neue Perspektiven: Selbstfürsorge als Schlüssel zur Nachhaltigkeit

Dieses ständige Gefühl, nie genug zu tun, begleitete mich lange. Selbst nach einem anstrengenden Tag fragte ich mich, ob ich nicht noch mehr hätte leisten können. Doch ich lernte: Dauerhafte Selbstkritik führt in die Erschöpfung. Empathie ist essenziell, aber wer sich zu stark mit den Patient:innen identifiziert, nimmt ihr Leid mit nach Hause.

Ich begann, klare Grenzen zu setzen – nicht nur für mich, sondern auch im Team. Denn wer immer zur Stelle ist und alles übernimmt, nimmt Kolleg:innen die Verantwortung ab und verhindert, dass sie selbst wachsen. Ein gesundes Mass an Unterstützung ist entscheidend.

Heute weiss ich: Wer in der Pflege langfristig gesund bleiben will, muss Selbstfürsorge ernst nehmen. Ich habe gelernt, meinen Wert nicht nur an meinem Einsatz für andere zu bemessen. Ich muss nicht jede Schicht übernehmen, nicht immer die Erste sein, die einspringt. Und siehe da: Die Welt dreht sich weiter.

Supervisionen und der Austausch mit Kolleg:innen halfen mir zu erkennen, dass ich mit meinen Herausforderungen nicht allein bin. Auch Arbeitgeber tragen Verantwortung: Klare Arbeitsstrukturen, regelmässige Schulungen und Unterstützung in Belastungssituationen können Burnout vorbeugen.




 

Hingabe mit Mass: Ein nachhaltiger Weg in der Pflege

Hingabe ist das Herzstück der Pflege – doch niemand kann dauerhaft geben, ohne auch an sich selbst zu denken. Sich zu schützen bedeutet nicht Egoismus, sondern ist die Grundvoraussetzung, um langfristig für andere da sein zu können.

Wenn ich heute auf meinen Weg zurückblicke, sehe ich, wie sehr ich mich verändert habe. Ich liebe meinen Beruf – doch jetzt weiss ich, dass ich nicht unendlich belastbar bin. Und das ist völlig in Ordnung.

Jetzt bin ich neugierig auf deine Erfahrungen:

  • Hast du dich schon einmal in der „Helfersyndrom-Falle“ gefühlt?

  • Wie meisterst du heute die Herausforderungen in der Pflege?

  • Welche Strategien helfen dir, ein gesundes Gleichgewicht zu finden?

 

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