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Angehörige als Partner:innen? Wie stärkt Zusammenarbeit die Patientengesundheit?

Autorenbild: ignatius oundeignatius ounde

Ein ganz gewöhnlicher Tag auf Station – so hätte es zumindest scheinen können. Doch schon als ich mein Abendessen im Kühlschrank verstaute und in den Aufenthaltsraum trat, ahnte ich, dass dieser Tag alles andere als normal werden würde. Im Flur begegnete mir eine Kollegin mit müdem Lächeln. „Halt dich fest“, sagte sie leise. „Heute sind einige Angehörige besonders besorgt …“ Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Auch das gehört eben zu unserem Alltag.




Verschiedene Gesichter der Sorge


Im Laufe meiner Tätigkeit habe ich die unterschiedlichsten Verhaltensweisen von Angehörigen kennengelernt. Es gibt:

·         Der „Ruhepol“ – strahlt in jeder noch so angespannten Situation Gelassenheit aus und vermittelt Patient:innen wie Pflegepersonal ein Gefühl von Sicherheit.

·         Die „Klette“ – ständig kontrollierend, mit einem unerschöpflichen Vorrat an Fragen.

·         Die „Organisatorin“ – behält selbst in turbulenten Momenten den Überblick über Termine, Formulare und Abläufe, sodass sich alle auf das Wesentliche konzentrieren können.

·         Der „Skeptiker“ – zutiefst misstrauisch, hinterfragt jedes Detail und jede Diagnose.

·         Der „Aufmunterer“ – versprüht Optimismus, bringt kleine Überraschungen mit und hebt durch humorvolle Bemerkungen die Stimmung auf der Station merklich.

·         Die „Leidenden“ – so erschöpft und mitgenommen, als wären sie selbst Patient:innen.

·         Die „Brückenbauerin“ – verfügt über kulturelles Wissen, spricht mehrere Sprachen oder kennt Rituale, um so Sprach- und Kulturbarrieren gekonnt zu überwinden.

·         Die „Besserwisserin“ – liefert unaufgefordert Lösungen, will jede Entscheidung mitbestimmen.

·         Der „Ausbalancierer“ – erkennt frühzeitig Spannungen innerhalb der Familie oder im Team und setzt sein diplomatisches Geschick ein, um eine harmonische Atmosphäre zu schaffen.

·         Der „Unsichtbare“ – zieht sich zurück und hinterlässt oft wichtige Informationslücken.



Egal, wie sie sich zeigen, all diese Verhaltensweisen sind getrieben von derselben Grundemotion: tiefe Sorge und der Wunsch, das Beste für ihre Liebsten zu erreichen.

Wenn Angehörige ein Spital betreten, tragen sie oft einen emotionalen Cocktail aus Verzweiflung, Angst, Erleichterung und Ungeduld mit sich herum. Sie wollen Antworten und einen Fahrplan für das, was als Nächstes kommt. Doch sie prallen auf eine Welt aus weissen Wänden, piepsenden Geräten und Menschen in Eile – nicht selten fühlen sie sich dabei wie Fremde im eigenen Film.


Eine Begegnung, die mir besonders im Gedächtnis blieb


Als ich noch Student war, hatte ich einmal mit einer Mutter zu tun, deren kleiner Sohn an einer schweren Lungenentzündung litt. Sie wirkte auf mich wie eine aufgewühlte Seele: zitternde Hände, Tränen in den Augen und das Haar zerzaust vom vielen Durch-die-Haare-Fahren. Ihre erste, stockende Frage: „Wer kann mir sagen, ob alles gut wird?“ Ich spürte ihre Panik fast körperlich – die Angst, etwas Schlimmes könnte passieren, sobald sie auch nur einen Augenblick wegschaut. In diesem Moment war ich ihr einziger Anker. Natürlich haben wir ihm schnell eine Infusion gelegt und Antibiotika verabreicht, und nach einigen Tagen durfte sie ihren Sohn gesund und munter wieder nach Hause begleiten. Doch der Eindruck, den ihr verzweifelter Blick bei mir hinterlassen hat, bleibt unvergessen.

Der Leitfaden, der mich trägt

Über die Jahre habe ich gelernt, dass ich den Angehörigen nicht nur fachliche Sicherheit vermitteln, sondern auch emotional stützen muss. Ein offenes Lächeln, aufmerksames Zuhören und ruhiges, klares Erklären – schon senken sich Schultern, atmen Menschen tiefer durch und spüren: Hier darf ich vertrauen.


Zwischen Verbündeten und Überforderung


Angehörige können wahre Held:innen sein. Sie kennen den Menschen, den wir pflegen, in- und auswendig: Sie wissen, welche Mahlzeiten er verabscheut, welche Musik ihn beruhigt und welcher Witz ihn zum Lachen bringt. Kulturelle Hintergründe können uns zudem Türen öffnen, von denen wir ohne ihr Wissen gar nicht wüssten, dass es sie gibt.

Ich erinnere mich an einen Patienten, der sehr schüchtern war und kaum Deutsch sprach. Seine Tochter kam fast täglich, übersetzte und half ihm, Vertrauen zu fassen. Dank ihr verstanden wir rasch seine Sorgen und konnten die Behandlung gezielt anpassen. Es war ein Gefühl, als hätte jemand einen Schlüssel zu seinem Herzen gefunden und uns damit allen den Weg geebnet.

Doch es gibt auch die andere Seite: Die besorgte Ehefrau, die jeden Tag stundenlang vor dem Zimmer verharrt, auch wenn sie nicht hinein darf. Sie bringt unaufhörlich selbst gekochtes Essen mit, fragt jeden im Team unzählige Male dasselbe und will jeden Schritt nachvollziehen. An manchen Tagen habe ich das Gefühl, wir wenden mehr Zeit für ihre Fragen auf als für den Patienten selbst. Aber ist das wirklich „übertrieben“? Oder vielleicht doch bloss ein Ausdruck ihrer lähmenden Angst, die sie mittels Kontrolle in Schach zu halten versucht?


Wenn die Angst das Ruder übernimmt


Ein anderer Fall war ein älterer Herr, dem wir uns kaum nähern konnten, ohne dass er uns mit dem Internet und zig Studien konfrontierte. Er verglich Kliniken und drohte mit Beschwerden bei jeder Verzögerung. Seine laute, fordernde Stimme war anstrengend, doch im ruhigen Gespräch wurde schnell klar, dass er sich schlicht hilflos fühlte: Er sah, wie seine Frau Tag für Tag schwächer wurde und spürte seine eigene Ohnmacht. Also suchte er verzweifelt nach einem Weg, doch noch Kontrolle zu behalten.

In solchen Momenten atme ich tief durch, setze mich zu ihm und begegne ihm auf Augenhöhe. „Ich verstehe, dass Ihnen das Angst macht. Lassen Sie uns gemeinsam ansehen, wie der Behandlungsplan aussieht.“ Häufig ist genau das der Schlüsselmoment, in dem sich die Spannungen lösen.


Grenzen: Balanceakt zwischen Professionalität und Mitgefühl


Nicht jede Begegnung verläuft so reibungslos. Es gibt Tage, da schleppe ich mich nach Feierabend unter die Dusche und frage mich: „War ich für Frau Meier präsent genug? Habe ich Herrn Schmidt ernst genommen, als er so verzweifelt wirkte? “Manche Angehörige fordern uns sehr heraus, stellen unser Urteil infrage oder versuchen, uns rund um die Uhr in Beschlag zu nehmen. Eine Kollegin erzählte mir einmal von einer Mutter, die heimlich Globuli ins Zimmer schmuggelte, weil sie überzeugt war, es besser zu wissen. Dann müssen wir Grenzen ziehen, damit der Patient geschützt bleibt. Aber wie zieht man solche Grenzen, ohne das Gegenüber vor den Kopf zu stossen? Hier hilft mir stets der Rückhalt im Team. Wir sprechen offen über schwierige Situationen, teilen Erfahrungen und überlegen gemeinsam, wie wir das nächste Mal reagieren können. Es macht vieles leichter, wenn man weiss, dass man nicht allein diese Last trägt – und erinnert daran, dass hinter all dem unangenehmen Verhalten meist nur die pure Furcht steckt.


Wenn Angehörige selbst zu Patient:innen werden


Ganz besonders nahe geht es mir, wenn Angehörige permanent am Bett wachen. Einmal hatte ich eine Familie, die Tag und Nacht bei der schwer kranken Tochter blieb. Sie wechselten sich zwar ab, aber ihre Erschöpfung war greifbar: kein Schlaf, kaum Essen, die Gedanken nonstop beim Kind. Einige zeigten sogar erste Anzeichen eines Burnouts. In solchen Fällen versuchen wir, auch die Angehörigen zu „pflegen“ – sei es durch beruhigende Gespräche, das Angebot psychologischer Unterstützung oder das behutsame Drängen, sich doch mal eine Pause zu gönnen. Viele lehnen das anfangs ab, weil sie glauben, damit ihre Liebsten im Stich zu lassen. Doch wenn sie merken, dass ein wenig Schlaf sie nicht zu schlechteren Eltern macht, entspannt sich die Lage meistens für alle.


Kommunikation, die Herzen öffnet


Aus all diesen Erfahrungen habe ich gelernt, dass eine offene und einfühlsame Kommunikation der Schlüssel ist. Manchmal reicht ein kurzer Zwischenstand, ein warmes Lächeln oder die Frage: „Wie fühlen Sie sich gerade?“ – und schon entsteht ein Raum der Verbundenheit, in dem man sich wirklich begegnen kann. Mir ist es wichtig, Angehörige aktiv ins Team einzubinden. „Haben Sie heute etwas Besonderes an Herrn Müller bemerkt? Wie wirkt er auf Sie?“ Solche Fragen signalisieren: Ihr Wissen ist wertvoll, denn niemand kennt den Patienten so gut wie die Familie.


Die digitale Erweiterung: modern und menschlich und KI-Landschaft in Schweizer Spitälern



In den letzten Jahren kommt ein neues Kapitel hinzu: Social Media und KI-gestützte Kommunikation. Manche Patient:innen oder Angehörige versuchen, mich nach dem Klinikaufenthalt auf Facebook oder anderen Plattformen zu kontaktieren. Dann stehe ich oft vor einem Dilemma: Einerseits erkenne ich das Bedürfnis nach Nähe, andererseits möchte ich meine private Sphäre bewahren. Also lehne ich solche Kontakte meist freundlich ab und erkläre die Gründe. So kann ich professionell bleiben, ohne sie zu verletzen.

Obwohl die Schweiz in vielen Bereichen als innovatives Land gilt, steckt der Gesundheitssektor digital gesehen oft noch in den „Steinzeit“-Jahren. Man spürt das zum Beispiel an den Chatbots mancher Spitäler: „Mina“ und „Anna“ bieten zwar einfache Infos zu Themen wie Besuchszeiten und Anfahrt, aber wirklich revolutionär sind sie (noch) nicht. Immerhin geht „ks_bot“ schon einen Schritt weiter, indem er KI-gestützte, etwas individuellere Antworten liefert.

Trotzdem fehlen solche digitalen Assistenten leider noch in vielen grossen Institutionen, selbst an einigen der grössten Universitätskliniken sucht man vergeblich nach Chatbots. Dabei könnte gerade dieser Service das Pflegepersonal entlasten und Angehörige bei Routine fragen schnell informieren. So bleibt mehr Zeit für das wirklich Wichtige: das persönliche Gespräch, Trost und Zuhören – Dinge, die eine Maschine zwar nicht ersetzen kann, aber zumindest unterstützen sollte.



Kraft tanken: Selbstschutz für Pflegende


Bei all der Fürsorge dürfen wir uns selbst nicht vergessen. Angesichts intensiver Angehörigenkontakte ist Selbstfürsorge unverzichtbar:

·         Pausen bewusst einlegen

Eine Kollegin erzählt, dass sie jeden Tag fünf Minuten vor die Tür geht und tief durchatmet. Diese kleine Routine hilft ihr sehr.

·         Kollegialer Austausch

Teilen Sie frustrierende Erlebnisse. „Wir hatten heute wieder so eine verzweifelte Angehörige, ich muss das kurz loswerden…“ – Solche Gespräche im Team sind Gold wert.

·         Supervision

Bei sehr belastenden Situationen kann eine externe Betrachtung und Reflexion helfen, Grenzen zu wahren.

·         Fortbildungen

Ob Deeskalation oder Gesprächsführung – wer trainiert ist, geht souveräner mit schwierigen Angehörigen um.

·         Achtsamkeit

Kurze Meditationen oder Entspannungsübungen erleichtern das innere Abschalten und beugen Stress-Symptomen vor.


Ich habe mir angewöhnt, nach der Schicht kurz auf das Dach des Gebäudes zu gehen und ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen. Dann lasse ich den Tag an mir vorbeiziehen und denke: „Ich bin dankbar, heute für jemanden da gewesen zu sein.“




Gemeinsam stark: ein Fazit


Wenn ich an all die Angehörigen denke, die mir begegnet sind, sehe ich ein kunterbuntes Mosaik: Tränen und Lächeln, Wut und Erleichterung, Furcht und Hoffnung. All diese Emotionen haben einen Ursprung: Liebe für den Menschen im Krankenbett. Unsere Aufgabe ist es, diese Liebe zu begleiten, zu kanalisieren und im Heilungsprozess zu nutzen. Gelingt uns das, wird aus dem Krankenhaus nicht nur ein Ort der Angst, sondern auch einer der Geborgenheit.

Klar, dafür braucht es manchmal ein dickes Fell und unerschütterliche Geduld. Doch wenn ich mir vorstelle, wie ich selbst reagieren würde, läge jemand, den ich liebe, im Spital, dann bin ich dankbar für jedes offene Ohr und jede helfende Hand. Deshalb komme ich jeden Tag auf die Station zurück – voller Neugier auf die Menschen, die mir begegnen werden. Denn wir alle, Patientinnen und Angehörige, sind in diesem Prozess miteinander verbunden. Und wenn wir die Angehörigen als Partnerinnen begreifen, schaffen wir ein Netzwerk aus Nähe, Verständnis und Unterstützung, das am Ende vor allem eines garantiert: den grösstmöglichen Nutzen für unsere Patient:innen.



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