Die Schweiz und das Paradox der Integration
- ignatius ounde
- 1. Aug.
- 4 Min. Lesezeit

Herzlich willkommen zum Blogbeitrag an diesem besonderen 1. August Während wir heute die Schönheit unserer Berge, die Stärke unserer Traditionen und den Geist unserer Eidgenossenschaft feiern, möchte ich einen Blick auf ein Thema werfen, das für die Zukunft unseres Landes ebenso entscheidend ist: die gelungene Integration. Es geht nicht nur darum, sich anzupassen, sondern darum, die enorme Bereicherung, die Vielfalt mit sich bringt, voll und ganz zu umarmen.
Die Diskussion um Integration ist oft vielschichtig und manchmal kontrovers. Kürzlich habe ich ein sehr aufschlussreiches Buch gelesen: "Das Integrationsparadox" von Aladin El-Mafaalani. Schon der Titel "Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt" ist provokant. Doch beim genauen Hinsehen wird klar: Es geht nicht um das Scheitern von Integration, sondern darum, dass der Prozess selbst bestehende, oft ungesehene Spannungen und blinde Flecken aufdeckt. Und genau das ist der Weg zu einer stärkeren, gerechteren Gesellschaft.
El-Mafaalani beschreibt einen strukturellen Erwartungskonflikt. Einerseits gibt es die Erwartung, dass sich integrierte Menschen unauffällig anpassen. Andererseits erwarten viele gut integrierte Postmigrant:innen, mit ihrer sprachlichen, religiösen und vielfältigen Identität als "Deutschplus" – oder in unserem Fall "Schweizerplus" – anerkannt und wertgeschätzt zu werden. Beide Seiten übersehen dabei entscheidende Aspekte.
Der erste "blinde Fleck": Integration bedeutet nicht, den Glauben, die Muttersprache oder die Herkunft wie einen alten Anzug abzulegen. Es ist eher, so El-Mafaalani, wie eine zweite Haut anzulegen – eine Ergänzung, keine Ersetzung. Die Hautfarbe, Augenform oder der Name eines Menschen stellen kein Hindernis für "Unauffälligkeit" dar. Vielmehr prägen sie die Möglichkeiten des Aufgehens in der Masse und formen die Erfahrungen, Herausforderungen und Erfolge. Wer Aladin El-Mafaalani zu diesem Thema hört, weiss, wovon er redet. Es ist ein Plädoyer für Respekt und die Anerkennung, dass die individuellen Hintergründe das Ganze bereichern.
Der zweite "blinde Fleck" kommt von Klaus Bade: "Integration ist keine Einbahnstrasse." Dieser Satz, schon vor über 25 Jahren formuliert, ist die Quintessenz. Die Integration von Teilen in ein Ganzes verändert das Ganze selbst. Wie schon Aristoteles wusste: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile; es ist ein dynamisches Wechselspiel.
Genau hier knüpfen wir an eine zentrale Erkenntnis an, die auch für Unternehmen und Institutionen gilt: "Ein Unternehmen ist nicht inhärent rassistisch, sexistisch, klassistisch oder diskriminierend – der Prozess ist es, wenn nicht genug verschiedene Menschen im Raum sitzen.“ Genau das gilt auch für Spitäler. Vielfalt ist nicht nur ein schönes Ideal, keine blosse Dekoration an der Wand. Sie ist eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit.
Als Pflegefachmann habe ich aus erster Hand erfahren, dass Vielfalt nicht nur ein nettes Ideal ist, sondern eine entscheidende Zutat für den Erfolg – besonders in unserem Arbeitsalltag im Spital.
Ich erinnere mich an eine Situation auf meiner Station, die mir diese Wahrheit besonders deutlich gemacht hat. Wir hatten einen Patienten, dessen Familie aus einem anderen Kulturkreis stammte. Trotz unseres Engagements hatten wir Mühe, ihre nonverbalen Signale und traditionellen Ansichten über Gesundheit und Krankheit richtig zu deuten. Es war kein Mangel an Fürsorge, sondern ein Mangel an gemeinsamem Verständnis.
Dann kam eine Kollegin aus einem anderen kulturellen Hintergrund zum Team. Sie sprach mehrere Sprachen und verstand die Nuancen der Familie intuitiv. Sie konnte die Kommunikationslücke überbrücken, medizinische Informationen so erklären, dass sie Resonanz fanden, und ein Vertrauen aufbauen, das uns vorher fehlte. Die Betreuung des Patienten verbesserte sich dadurch erheblich, und auch wir als Team wurden dadurch effektiver.
Diese Erfahrung hat mir gezeigt: Vielfalt im Spitäler ist nicht nur eine Frage der Repräsentation. Es geht um bessere Patientenversorgung. Ein diverses Team kann die kulturellen Bedürfnisse von Patient:innen effektiver verstehen und darauf eingehen, was zu besseren Ergebnissen und einem größeren Vertrauensverhältnis führt.
Und diese Erkenntnis gilt nicht nur für die Arbeitswelt. In den kleinen und ländlichen Dörfern, wie auch in meinem, sehen wir immer noch eine Überrepräsentation von älteren, weissen Männern, während in den Städten die Durchmischung langsam aufholt. Ich wünsche mir, dass wir diese Vielfalt überall sehen – denn nur wenn verschiedene Menschen an einem Tisch sitzen, mit ihren unterschiedlichen Hintergründen, Erfahrungen und Perspektiven, finden wir robustere Problemlösungen. Kreativität blüht auf, und die Ergebnisse sind umfassender und inklusiver.
Denken Sie an die Herausforderungen, vor denen die Schweiz steht: demografischer Wandel, Fachkräftemangel, globale Wettbewerbsfähigkeit, Innovationsdruck. Wer ist besser geeignet, diese Herausforderungen zu meistern, als eine Belegschaft und eine Gesellschaft, die eine Vielzahl von Perspektiven, Erfahrungen und Fähigkeiten vereint?
An diesem 1. August, während wir unsere Schweizer Identität feiern, sollten wir auch die Dynamik würdigen, die entsteht, wenn wir neue Perspektiven und Erfahrungen in unser nationales Gefüge integrieren. Es ist nicht immer einfach, und ja, es kann Konflikte an die Oberfläche bringen. Aber diese Konflikte sind, wenn konstruktiv angegangen, ein Zeichen des Wachstums, ein Zeichen dafür, dass wir auf dem Weg zu einer vollständigeren, widerstandsfähigeren und letztlich wohlhabenderen Schweiz sind.
Unsere Stärke liegt nicht in der Gleichförmigkeit, sondern in unserer Fähigkeit, das unglaubliche Mosaik von Menschen, die die Schweiz ihr Zuhause nennen, zu umarmen und zu schätzen. Echte Integration bedeutet zu erkennen, dass jede Person mit ihrem einzigartigen Hintergrund und ihren Beiträgen den Reichtum und die Stärke unserer Nation mehrt.
In diesem Sinne: Einen schönen 1. August an alle


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