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Es war ein Spätdienst auf der chirurgischen Station. Ich war gerade dabei, die Medikamente zu sortieren, als er plötzlich vor mir stand. Gross, vielleicht zehn Zentimeter grösser als ich, die Schultern angespannt, die Stimme laut und hart.

„Ich will meine Schmerzmedikamente – und der Arzt soll auch kommen!......... Jetzt!“

Sein Blick war fordernd, seine Haltung aggressiv. Für einen Moment stockte mir der Atem. Ich spürte, wie mein Körper reagierte – ein leichtes Zittern, ein halber Schritt zurück, mein Blick tastete unauffällig die Fluchtwege im Raum ab.

„Okay, ich habe Sie gehört“, antwortete ich ruhig. „Ich rufe die Ärztin oder den Arzt und bringe Ihre Medikamente.“

Kaum war ich im Stationszimmer, setzte ich mich. Erstmal atmen. Vier Sekunden ein, halten, vier aus, halten. Box Breathing – mein Anker, wenn es eng wird.

 

Wenn Erwartungen explodieren


Solche Situationen sind längst keine Ausnahme mehr. Was früher als seltener Ausnahmefall galt – ein Patient, der laut wird, Forderungen stellt, mit Druck reagiert – ist heute für viele Pflegende Alltag. Regelmässig, manchmal sogar täglich, erleben wir Eskalationen, die uns fordern, erschüttern, manchmal auch überfordern.

Diese Entwicklung ist kein Zufall. Sie ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Wir leben in einer Zeit der „Sofort-Logik“: Heute bestellt, heute geliefert. Die Erwartung, dass alles jederzeit verfügbar ist, hat sich tief in unser kollektives Verhalten eingeschrieben. Und sie macht nicht Halt vor Krankenhausmauern.

Im Spital zeigt sich diese Haltung in Sätzen wie:

  • „Ich will morgen wieder gesund sein.“

  • „Ich will den Chefarzt – sofort.“

  • „Ich erwarte Hotelservice – per Knopfdruck.“

Diese Aussagen sind keine blossen Wünsche – sie sind Ausdruck eines Anspruchsdenkens, das sich mit der Realität des Gesundheitswesens oft nicht vereinbaren lässt. Denn während draussen Amazon liefert, kämpfen wir drinnen mit Notfällen, Triage, Personallücken und komplexen Krankheitsbildern.

Was daraus entsteht, ist ein ständiges Aufeinanderprallen:  Erwartung trifft auf Möglichkeit. Anspruch trifft auf Systemgrenzen und dazwischen stehen wir – die Pflegenden.

Wir sind die Pufferzone zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Wir erklären, beruhigen, organisieren, dokumentieren – und tragen dabei nicht nur Verantwortung für medizinische Abläufe, sondern auch für emotionale Spannungen.

Für viele von uns bedeutet das:

  • Ständige Wachsamkeit.

  • Emotionale Selbstregulation.

  • Kommunikation unter Druck.

  • Und oft: das Gefühl, nicht zu genügen – obwohl wir alles geben.


Diese Realität ist nicht nur eine Herausforderung für Einzelne, sondern ein strukturelles Phänomen. Sie zeigt, wie dringend wir neue Wege brauchen: in der Kommunikation, in der Ausbildung, in der Personalplanung – und im gesellschaftlichen Verständnis dessen, was Pflege leistet.

Denn Pflege ist kein Lieferservice. Pflege ist Beziehung, Verantwortung, Präsenz. Und sie braucht Raum, Respekt – und realistische Erwartungen.


Wenn Wut zur Belastung wird


Für Auszubildende, teils gerade 16 Jahre alt, ist es oft ein Schock, wenn ein Patient, so alt wie ihr Vater oder Grossvater, lautstark auf sie losgeht. Aber auch erfahrene Kolleg*innen bleiben nicht unberührt.

Ich habe erlebt, wie Teammitglieder nach einem solchen Ausbruch zitternd das Zimmer verliessen. Wie manche sich vor dem nächsten Dienst fürchteten. Wie andere krank wurden oder bestimmte Patient*innen nicht mehr allein betreuen wollten.

Denn diese Wutausbrüche sind oft nicht punktuell. Sie geschehen auf dem Flur, im Zimmer, im Gespräch. Je nach Tagesform, je nach Frustration.

 

Was dann hilft – und wie wir handeln


Mit der Zeit lernt man, mit solchen Situationen umzugehen. Wir sprechen ruhig, halten körperlichen Abstand, nehmen die Menschen ernst – ohne uns selbst zu verlieren.

Deeskalation beginnt bei uns selbst:

Nicht sofort reagieren. Erst fühlen. Dann handeln.

Oft hilft schon ein ruhiger Ton, ein klarer Satz, ein aufrechter Körper. Manchmal aber auch: sich Hilfe holen. Frühzeitig. Nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke.

Wir werden dafür geschult. In Kommunikation, in Körpersprache, in Selbstschutz. Und wir dokumentieren jeden Vorfall. Nicht, um jemanden zu bestrafen – sondern um Muster zu erkennen. Und Strukturen zu verbessern.

 

Was nach dem Adrenalinschub passiert


Wenn die Situation vorbei ist, wenn der Puls wieder normal schlägt, beginnt die eigentliche Arbeit. Dann wollen wir verstehen:


Was ist passiert? Warum ist es eskaliert? Was können wir daraus lernen?

Dafür nutzen wir bei uns SOAS-R, die Staff Observation Aggression Scale – Revised. Eine einfache, standardisierte Methode, um Vorfälle aus fünf Perspektiven zu betrachten:

  1. Was hat die Eskalation ausgelöst?

  2. Wie hat sich die Aggression gezeigt?

  3. Wen hat sie getroffen?

  4. Welche Folgen hatte sie?

  5. Was hat letztlich geholfen, die Situation zu beruhigen?

Das klingt technisch – ist aber ein starkes Werkzeug. Denn wenn viele Situationen so erfasst werden, sehen wir plötzlich Muster: Wo häufen sich Vorfälle? Welche Massnahmen helfen wirklich? Wo müssen wir baulich, personell oder strukturell nachbessern?

Da Prävention besser ist als Nachsorge, setzen wir zusätzlich die RADAR-Methode ein – ein präventives Instrument, das Risiken frühzeitig erkennt und ein rechtzeitiges Eingreifen ermöglicht.


Zahlen, die erklären – aber nichts entschuldigen


Was wir erleben, ist kein persönliches Gefühl – es ist messbar:

  • Am Universitätsspital Basel werden täglich mehr als zwei Bedrohungssituationengemeldet. In drei Jahren hat sich diese Zahl verdoppelt.

  • In der Notaufnahme des CHUV Lausanne wurden 2024 fast 400 gewalttätige Patient*innen registriert – ein Anstieg von 24 % in nur zwei Jahren.

  • Die Schweiz hat mit 18,4 Pflegenden pro 1.000 Einwohner*innen zwar einen hohen Personalschlüssel – doch die Belastung wächst schneller als die Ressourcen.

  • Laut Prognosen des Gesundheitsobservatoriums (Obsan) steigt der Bedarf an Pflegekräften in der Alters- und Langzeitpflege bis 2040 massiv an.

Diese Zahlen sind keine Ausrede. Aber sie helfen, unsere Realität zu verstehen – und den Handlungsdruck einzuordnen.

 

Was uns hilft – im Moment der Eskalation


Ein paar Dinge, die wir im Alltag konkret tun:


Früh Orientierung geben.


Kurze Updates alle 20–30 Minuten. Nicht alles lösen – aber Druck rausnehmen.


Rollen klären – ruhig und klar.


„Ich bereite vor, die Ärztin entscheidet. Ich koordiniere das jetzt für Sie.“ Führung ohne Härte.


Selbstschutz ist Professionalität.


Abstand, tiefe Stimme, kurze Sätze – und früh Verstärkung holen.


Die Stillen ansprechen.


Nicht nur die Lauten brauchen Aufmerksamkeit. Zwei ruhige Fragen im Sitzen wirken oft Wunder.


Dokumentieren. Immer.


Nicht aus Prinzip – sondern zum Schutz. Für uns, fürs Team, für die Patient*innen.

 

Pflege braucht mehr als Fachwissen – sie braucht Sicherheit


Verbale Aggression war lange ein Tabuthema – heute wissen wir: Sie ist ein echter Stressfaktor. Und sie wird nicht verschwinden.

Deshalb ist Gewaltprävention kein „nice to have“, sondern ein essenzieller Bestandteil unseres Berufs. Dazu gehören:

  • Kommunikationstrainings

  • Selbstreflexion und Teamroutinen

  • Resilienzförderung und Supervision

  • Klare Strukturen und echte Unterstützung

Denn Pflege kann nur dann wirklich für andere da sein – wenn wir zuerst auch auf uns achten dürfen.



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Montage sind mein Lieblingstag der Woche – nicht nur, weil ich an diesem Tag meine Kinder bei mir habe, sondern auch, weil dieser Tag eine besondere Energie in sich trägt. Ja, am Sonntagabend schleicht sich manchmal ein Hauch von Monday Blues ein. Und doch spüre ich am Montagmorgen diesen Energieschub, der mich antreibt.

In fast jedem Haus, in dem ich gearbeitet habe, herrscht an diesem Tag programmiertes Chaos: Jemand fehlt, Material steckt in der Logistik fest, ein digitales Tool streikt.

Wer verstehen will, wie eine Station wirklich funktioniert, sollte den Montagmorgen beobachten. Er ist der Stresstest der Teamkultur. Da zeigt sich, ob ein Team harmoniert oder auseinanderdriftet, ob gemeinsame Leitplanken tragen oder Einzelaktionen überhandnehmen. Ein Montagmorgen offenbart, ob wir einander vertrauen, Verantwortung teilen und als Einheit reagieren. Dann wird geflucht, bei manchen explodiert die kurze Zündschnur – und die Stimmung kippt. Genau hier zeigt sich, was Führung wirklich bedeutet.

 

Ruhe bewahren – und führen, nicht nur leiten

Wer den BLS-Kurs absolviert hat, kennt das Reanimations-Mantra: Ruhe bewahren. Ich habe Stationsleitungen erlebt, die genau das vorleben – und allein durch ihre Haltung den Puls der gesamten Schicht senken. Forschung bestätigt diesen Zusammenhang: Relationale Führungsstile, die auf Vertrauen, Unterstützung und Verbundenheit setzen, verbessern nachweislich Zufriedenheit, Stabilität und Effektivität im Team.

Die Aufgaben einer Stationsleitung reichen heute weit über Dienstpläne und Schichteinteilungen hinaus. Dazu gehören Bewerbungsgespräche, Mitarbeiterentwicklung, Qualitätsstandards, Bettensteuerung, Wirtschaftlichkeit – und weiterhin Pflege am Bett.Tatsächlich leiten viele Stationsleitungen Teams mit bis zu 50 Pflegenden. Verantwortung auf KMU-Niveau – und das Tag für Tag.

Starke Stationsleitungen sind Puffer nach oben, Übersetzerin nach unten, Coach zur Seite – und bleiben gleichzeitig nah am Bett. An einem typischen Montag braucht es Präsenz und Ordnung. Der Blick von oben: Was ist in den nächsten zwei Stunden kritisch? Dann folgt das Handeln – Ressourcen verschieben, den Skill-Mix nutzen, Schnittstellen aktiv anrufen, Kommunikation schlank halten. Das Team muss spüren: Jemand führt mit Klarheit, nicht mit Hektik.

 

Gerechtigkeit im Alltag: Transparent und menschlich

Gute Führung bedeutet Transparenz – besonders, wenn unpopuläre Vorgaben vom Management kommen. Keine Beschwichtigung, sondern Klartext: Was ist fix, was bleibt verhandelbar, und was können wir gemeinsam gestalten? Authentische Führung, die auf Transparenz, Selbstreflexion und Fairness basiert, hat laut Studien direkten Einfluss auf Motivation, Empowerment und die wahrgenommene Gerechtigkeit im Team.

Fairness zeigt sich auch im Dienstplan. Ein Beispiel: Eine Stationsleitung verschob Dienste, damit ein Vater am Schulkonzert seines Kindes teilnehmen konnte – im Gegenzug übernahm er zwei Spätdienste im Folgemonat. Das Team verstand: Gleichbehandlung bedeutet nicht gleiche Lösung.Das Gegenteil kenne ich auch: Kaum ist der Plan draussen, beginnt der wilde Tausch – das Original ist bald obsolet. Die Folge: Frust, Unruhe, Fluktuation. Kein Wunder, dass viele Pflegende zu Temporärbüros wechseln, wo sie ihre Einsätze selbst bestimmen können.

Inzwischen testen manche Häuser Selbstplanungs-Apps, die zu mehr Beteiligung führen. Studien zeigen jedoch, dass Selbstplanung nur funktioniert, wenn Eigeninteresse und Stationsbedarf im Gleichgewicht bleiben. Gute Führungskräfte schaffen diesen Rahmen – zwischen Autonomie, Teamverantwortung und Versorgungsrealität.

 

Klartext auf der Fläche

Leitungen, die mehr tun als Formulare abzeichnen, sind Motoren für Qualität, Zufriedenheit und Patientensicherheit. Sprache ist dabei zentral: klar, konkret, prägnant. Aufträge lauten nicht „könntest du mal“, sondern „wer – was – bis wann“. Das schafft Tempo und Orientierung. Gute Führung zeigt Konsequenz ohne Härte: Regeln gelten verlässlich, Ausnahmen sind begründet und transparent.

Vertrauen entsteht auch durch Mitgehen. Ich erinnere mich an eine Leitung, die eine Sitzwache übernahm, weil niemand frei war – und ihre Büroarbeit vom Laptop aus erledigte. Dieses Mit-anpacken stiftet Glaubwürdigkeit – bei Team und Patientinnen.

 

Entwickeln statt verwalten

Der grösste Hebel liegt in der Entwicklung von Menschen, nicht in Verwaltung. Individuelle Lernziele, kontinuierliches Feedback und klar sichtbare Entwicklungspfade machen Leistung reproduzierbar und fördern Bindung. Transformational orientierte Führung steigert nachweislich Motivation, Kompetenzentwicklung und Mitarbeiterbindung. Motivation und Ermutigung sind keine Kür – sie sind Pflicht.

 

Shared Governance: Verantwortung dort, wo Wirkung entsteht

In gut geführten Teams treffen sich Mitarbeitende regelmässig, entscheiden mit über Projekte und Qualitätsziele und reflektieren ihre Praxis. Shared Governance verankert Verantwortung dort, wo Pflege tatsächlich wirkt – am Bett. Forschung aus der Pflegepraxis zeigt, dass diese Form kollektiver Entscheidungsfindung die Bindung und Innovationskraft spürbar stärkt

Menschen fühlen sich repräsentiert, Ownership entsteht, Bindung wächst. Keine „Könige“, sondern Teams, die gemeinsam führen.

 

Ich komme selbst vom Bett – und weiss: Wenn ein Montag zu kippen droht, zählt vor allem eines – Haltung.Ruhe bewahren, den Takt halten, Orientierung geben.Qualität entsteht nicht im Organigramm, sondern dort, wo Pflege wirkt.Führung, die trägt, ist keine Funktion – sie ist Haltung.

 

Quellen

  1. Cummings, G. G. et al. (2018). Leadership styles and outcome patterns for the nursing workforce and work environment: A systematic review. Int J Nurs Stud, 85, 19–60.pubmed.ncbi.nlm.nih​

  2. Wong, C. A., & Laschinger, H. K. S. (2013). Authentic leadership, performance, and job satisfaction: The mediating role of empowerment. J Adv Nurs, 69(4), 947–959.sciencedirect​

  3. Bailyn, L., Collins, R., & Song, Y. (2007). Self-scheduling for hospital nurses: An attempt and its difficulties. J Nurs Manag, 15(1), 72–77.

  4. Fründt, D., & Klinke, S. (2022). Shared Governance in der Pflegepraxis: Chancen und Herausforderungen. Pflegewissenschaft, 24(12), 665–673.

  5. Goens, B., & Giannotti, N. (2024). Transformational Leadership and Nursing Retention: An Integrative Review. Nursing Management Review, PMC11283332.

  6. Lavoie-Tremblay, M. et al. (2020). Transformational and empowering leadership practices: Influences on the development of nurse leaders and retention. J Nurs Manag, 28(3), 482–491.

  7. Universitätsklinikum Regensburg (2025). Shared-Governance-Modell stärkt Pflegepraxis und Führungskultur.


 

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Kennst du das Gefühl, anwesend zu sein – und innerlich längst auf Distanz? Bei mir war es kein Knall, kein letztes Gefecht. Es begann als leises Ziehen im Bauch. Im Büro blinkte das Telefon, die Beratungsliste war länger als die Schicht. Ich führte Gespräche, tröstete, erklärte, organisierte – und wusste gleichzeitig: Für zusätzliche Stellen gibt es kein Geld.

Dann kam die offizielle Lohnerhöhung. So klein, dass sie eher nach Ironie klang als nach Anerkennung.

In mir mischten sich Müdigkeit und Klarheit. Ich kenne mein Potenzial. Ich weiss, wie ich arbeiten will: präsent, zugewandt, mit Zeit für das Wesentliche. An diesem Ort konnte ich meinen Patient:innen nicht mehr das Beste geben.

Ich sprach es an. Wir waren uns einig: Es ändert sich nicht – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Das war mein innerer Wendepunkt. Keine Rebellion, sondern Selbstschutz. Ich blieb professionell, atmete durch und traf eine ruhige Entscheidung: weniger klagen, mehr handeln. Ich ging – ohne neue Stelle, eine der Freiheiten in der Pflege – mit dem Vertrauen, dass es einen Ort gibt, an dem mein Einsatz wieder Sinn macht und so auch gespürt wird.


Wenn Erfahrung Gesichter bekommt


Als Co-Präsident des SBK Aargau Solothurn bekam diese Geschichte Stimmen. Nach Veranstaltungen blieben Kolleg:innen stehen und sagten Sätze wie: «Ich bin da, ich mache meinen Job – innerlich bin ich bereits weg.» Das waren keine Bequemen. Das waren Menschen mit Hypothek und Kindern, in Weiterbildungen, verbunden mit ihrem Team oder geografisch gebunden. Menschen, die gelernt haben, Unbequemes auszuhalten, damit daheim Stabilität bleibt. Von aussen wirkte es nach knapper Energie. Innen war es eine vernünftige Grenze. Kein Widerstand gegen Arbeit – Schutz vor dem Ausbrennen.


Muster, die sich durch die Bereiche ziehen


Ich höre diese Stimmen in Akutspitälern, in der Langzeitpflege, bei der Spitex und in der Reha. Die Muster ähneln sich: zu viele und anspruchsvolle Patient:innen, zu wenig Hände, zu viel Papier und Bildschirmzeit, zu wenig Stimme. Man will ans Bett – und sitzt trotzdem zu oft vor dem Bildschirm. Gute Ideen versickern zwischen «keine Zeit» und «machen wir später». Dienstpläne liegen auf Kante. Pausen werden zur Verhandlungsmasse. Irgendwann flüstert die innere Stimme: «Erledige, was verlangt ist – und geh nach Hause.» Das ist kein Charaktermangel. Das ist ein System, das Menschen an den Rand schiebt.


Pflegeinitiative: vom Wissen ins Handeln


Die Ausbildungsoffensive läuft – gut so. Mehr HF/FH-Studienplätze, bessere Praxisbedingungen, sichtbare Karrierewege: wichtig und richtig. Jetzt braucht es den zweiten Teil in der Umsetzung. Wir wissen, was es braucht – also machen.

Verbindliche Arbeitsbedingungen als Standard, nicht als Pilot:

  • planbare Dienstpläne mit Puffer statt Kante

  • garantierte, nicht verhandelbare Pausen

  • klare Obergrenzen für Einsprünge

  • echte Mitwirkung mit Entscheidungskompetenz (Shared Governance)

  • bezahlte, eingeplante Weiterbildung

  • Rollen mit Wirkung (z. B. APN, Praxisentwicklung, Case Management)

Dafür braucht es Budgets, Zuständigkeiten und Termine. Erst wenn diese Basis steht, trägt die Ausbildungsoffensive wirklich – weil Menschen bleiben. In dieser Reihenfolge: Arbeitsbedingungen jetzt umsetzen, Ausbildung weiter stärken. So sinkt der Druck im Alltag, Sinn und Identifikation kehren zurück – und die leise innere Kündigung verliert an Boden.


Was heute schon bewegt


Einige Häuser handeln: Rückgewinnungs-Gespräche mit klaren Zusagen («Ihr habt X benannt – bis Datum Y setzen wir Z um»), stabilere Dienstpläne, flexible Pensen, Rotationen zwischen Station, Tagesklinik und Ambulatorium, temporäre Entlastung im Backoffice, bezahlte Lernzeit, Mentoring, APN-Rollen. Das ist keine Kosmetik. Das ist Kultur in Aktion. Man spürt es in den Übergaben, hört es im Ton, sieht es in sinkender Fluktuation.


Was Teams konkret tun können


Zuhören – und sichtbar handeln. Wir kennen die typische Antwort «so ist das System». Wenn «typisch» gleich «systemisch» heisst, dann gehört das System angepasst.

  • Doppelerfassungen abbauen: Wenn ein Team wöchentlich zwei Meldungen dazu bringt, schafft man eine in drei Wochen ab und die zweite in sechs. Nicht perfekt, dennoch spürbar.

  • Prioritäten klären: Pflege pflegt. Alles, was nicht Pflege ist, wird geprüft, vereinfacht oder anders verteilt.

  • Führung schützt Energie: anerkennen, fokussieren, Grenzen respektieren.

  • Entwicklung sichtbar machen: Schritte zeigen, nicht erst anbieten, wenn jemand bereits kündigt.


Was du für dich tun kannst


Wenn es innerlich leiser geworden ist, starte mit einer ehrlichen Standortbestimmung: Was gibt dir Kraft, was nimmt sie? Drei Dinge, die dich halten würden. Drei, die dich vertreiben – mit Datum darunter.

Geh ins Gespräch, ohne Vorwurf, mit Vorschlag:«Wenn wir A und B anpassen, übernehme ich C – und bleibe.»

  • Zusatzeinsätze dosieren – bewusst und begrenzt.

  • Mikro-Erholung einbauen – drei Minuten am Fenster, kurzer Gang, ein Lachen, das die Schultern löst.

  • Mentoring oder Supervision holen – professionelle Hygiene, keine Schwäche.

  • Bewegung schaffen – interne Rotation, Projekt, neue Rolle.

  • Wechsel prüfen – Spitex, Reha, Tagesklinik, Palliative Care, Forschung, Lehre: Die Pflege ist grösser, als eine Station zeigen kann.

  • Gesundheit zuerst – Schlaf, Bewegung, gutes Essen sind Basis für Wirksamkeit.


Quiet Quitting ist ein Signal


Die Folgen spürt man überall: Patient:innen erhalten korrekte, zugleich weniger zugewandte Pflege; Zynismus wird ansteckend; Häuser verlieren Know-how und zahlen mit Fluktuation und Einarbeitung. Quiet Quitting ist kein Urteil über Personen. Es signalisiert, dass Abläufe, Führung und Kultur justiert werden müssen. Wo Sinn, Einfluss und Planbarkeit stimmen, bleibt die Energie hoch – unabhängig von Dienstalter oder Trendworten.


Mein Schluss


Ich habe den Wechsel gewählt, weil ich wieder ganz pflegen wollte – mit Kopf, Herz und Händen. Es war nicht leicht. Es war richtig. Wenn du innerlich bereits Abstand genommen hast, bist du nicht allein. Mach heute eine ehrliche Bestandsaufnahme. Sprich es an. Fordere Konkretes ein. Gib deinem Team und deiner Leitung die Chance zu reagieren. Wenn sich nichts bessert, ist Weiterziehen kein Versagen – es ist ein Schritt zu dir selbst und oft ein Gewinn für die Pflege, weil du dorthin gehst, wo deine Wirkung ankommt.

Ich glaube daran, dass wir Spitäler haben, die zuhören, lernen und verändern. Leise Signale sind wertvoll. Nehmen wir sie ernst, wird Arbeit wieder menschlich – und gerade deshalb professionell stark.

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