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Wenn die innere Kündigung leise beginnt

  • Autorenbild: ignatius ounde
    ignatius ounde
  • 8. Okt.
  • 4 Min. Lesezeit
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Kennst du das Gefühl, anwesend zu sein – und innerlich längst auf Distanz? Bei mir war es kein Knall, kein letztes Gefecht. Es begann als leises Ziehen im Bauch. Im Büro blinkte das Telefon, die Beratungsliste war länger als die Schicht. Ich führte Gespräche, tröstete, erklärte, organisierte – und wusste gleichzeitig: Für zusätzliche Stellen gibt es kein Geld.

Dann kam die offizielle Lohnerhöhung. So klein, dass sie eher nach Ironie klang als nach Anerkennung.

In mir mischten sich Müdigkeit und Klarheit. Ich kenne mein Potenzial. Ich weiss, wie ich arbeiten will: präsent, zugewandt, mit Zeit für das Wesentliche. An diesem Ort konnte ich meinen Patient:innen nicht mehr das Beste geben.

Ich sprach es an. Wir waren uns einig: Es ändert sich nicht – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Das war mein innerer Wendepunkt. Keine Rebellion, sondern Selbstschutz. Ich blieb professionell, atmete durch und traf eine ruhige Entscheidung: weniger klagen, mehr handeln. Ich ging – ohne neue Stelle, eine der Freiheiten in der Pflege – mit dem Vertrauen, dass es einen Ort gibt, an dem mein Einsatz wieder Sinn macht und so auch gespürt wird.


Wenn Erfahrung Gesichter bekommt


Als Co-Präsident des SBK Aargau Solothurn bekam diese Geschichte Stimmen. Nach Veranstaltungen blieben Kolleg:innen stehen und sagten Sätze wie: «Ich bin da, ich mache meinen Job – innerlich bin ich bereits weg.» Das waren keine Bequemen. Das waren Menschen mit Hypothek und Kindern, in Weiterbildungen, verbunden mit ihrem Team oder geografisch gebunden. Menschen, die gelernt haben, Unbequemes auszuhalten, damit daheim Stabilität bleibt. Von aussen wirkte es nach knapper Energie. Innen war es eine vernünftige Grenze. Kein Widerstand gegen Arbeit – Schutz vor dem Ausbrennen.


Muster, die sich durch die Bereiche ziehen


Ich höre diese Stimmen in Akutspitälern, in der Langzeitpflege, bei der Spitex und in der Reha. Die Muster ähneln sich: zu viele und anspruchsvolle Patient:innen, zu wenig Hände, zu viel Papier und Bildschirmzeit, zu wenig Stimme. Man will ans Bett – und sitzt trotzdem zu oft vor dem Bildschirm. Gute Ideen versickern zwischen «keine Zeit» und «machen wir später». Dienstpläne liegen auf Kante. Pausen werden zur Verhandlungsmasse. Irgendwann flüstert die innere Stimme: «Erledige, was verlangt ist – und geh nach Hause.» Das ist kein Charaktermangel. Das ist ein System, das Menschen an den Rand schiebt.


Pflegeinitiative: vom Wissen ins Handeln


Die Ausbildungsoffensive läuft – gut so. Mehr HF/FH-Studienplätze, bessere Praxisbedingungen, sichtbare Karrierewege: wichtig und richtig. Jetzt braucht es den zweiten Teil in der Umsetzung. Wir wissen, was es braucht – also machen.

Verbindliche Arbeitsbedingungen als Standard, nicht als Pilot:

  • planbare Dienstpläne mit Puffer statt Kante

  • garantierte, nicht verhandelbare Pausen

  • klare Obergrenzen für Einsprünge

  • echte Mitwirkung mit Entscheidungskompetenz (Shared Governance)

  • bezahlte, eingeplante Weiterbildung

  • Rollen mit Wirkung (z. B. APN, Praxisentwicklung, Case Management)

Dafür braucht es Budgets, Zuständigkeiten und Termine. Erst wenn diese Basis steht, trägt die Ausbildungsoffensive wirklich – weil Menschen bleiben. In dieser Reihenfolge: Arbeitsbedingungen jetzt umsetzen, Ausbildung weiter stärken. So sinkt der Druck im Alltag, Sinn und Identifikation kehren zurück – und die leise innere Kündigung verliert an Boden.


Was heute schon bewegt


Einige Häuser handeln: Rückgewinnungs-Gespräche mit klaren Zusagen («Ihr habt X benannt – bis Datum Y setzen wir Z um»), stabilere Dienstpläne, flexible Pensen, Rotationen zwischen Station, Tagesklinik und Ambulatorium, temporäre Entlastung im Backoffice, bezahlte Lernzeit, Mentoring, APN-Rollen. Das ist keine Kosmetik. Das ist Kultur in Aktion. Man spürt es in den Übergaben, hört es im Ton, sieht es in sinkender Fluktuation.


Was Teams konkret tun können


Zuhören – und sichtbar handeln. Wir kennen die typische Antwort «so ist das System». Wenn «typisch» gleich «systemisch» heisst, dann gehört das System angepasst.

  • Doppelerfassungen abbauen: Wenn ein Team wöchentlich zwei Meldungen dazu bringt, schafft man eine in drei Wochen ab und die zweite in sechs. Nicht perfekt, dennoch spürbar.

  • Prioritäten klären: Pflege pflegt. Alles, was nicht Pflege ist, wird geprüft, vereinfacht oder anders verteilt.

  • Führung schützt Energie: anerkennen, fokussieren, Grenzen respektieren.

  • Entwicklung sichtbar machen: Schritte zeigen, nicht erst anbieten, wenn jemand bereits kündigt.


Was du für dich tun kannst


Wenn es innerlich leiser geworden ist, starte mit einer ehrlichen Standortbestimmung: Was gibt dir Kraft, was nimmt sie? Drei Dinge, die dich halten würden. Drei, die dich vertreiben – mit Datum darunter.

Geh ins Gespräch, ohne Vorwurf, mit Vorschlag:«Wenn wir A und B anpassen, übernehme ich C – und bleibe.»

  • Zusatzeinsätze dosieren – bewusst und begrenzt.

  • Mikro-Erholung einbauen – drei Minuten am Fenster, kurzer Gang, ein Lachen, das die Schultern löst.

  • Mentoring oder Supervision holen – professionelle Hygiene, keine Schwäche.

  • Bewegung schaffen – interne Rotation, Projekt, neue Rolle.

  • Wechsel prüfen – Spitex, Reha, Tagesklinik, Palliative Care, Forschung, Lehre: Die Pflege ist grösser, als eine Station zeigen kann.

  • Gesundheit zuerst – Schlaf, Bewegung, gutes Essen sind Basis für Wirksamkeit.


Quiet Quitting ist ein Signal


Die Folgen spürt man überall: Patient:innen erhalten korrekte, zugleich weniger zugewandte Pflege; Zynismus wird ansteckend; Häuser verlieren Know-how und zahlen mit Fluktuation und Einarbeitung. Quiet Quitting ist kein Urteil über Personen. Es signalisiert, dass Abläufe, Führung und Kultur justiert werden müssen. Wo Sinn, Einfluss und Planbarkeit stimmen, bleibt die Energie hoch – unabhängig von Dienstalter oder Trendworten.


Mein Schluss


Ich habe den Wechsel gewählt, weil ich wieder ganz pflegen wollte – mit Kopf, Herz und Händen. Es war nicht leicht. Es war richtig. Wenn du innerlich bereits Abstand genommen hast, bist du nicht allein. Mach heute eine ehrliche Bestandsaufnahme. Sprich es an. Fordere Konkretes ein. Gib deinem Team und deiner Leitung die Chance zu reagieren. Wenn sich nichts bessert, ist Weiterziehen kein Versagen – es ist ein Schritt zu dir selbst und oft ein Gewinn für die Pflege, weil du dorthin gehst, wo deine Wirkung ankommt.

Ich glaube daran, dass wir Spitäler haben, die zuhören, lernen und verändern. Leise Signale sind wertvoll. Nehmen wir sie ernst, wird Arbeit wieder menschlich – und gerade deshalb professionell stark.

 
 
 

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