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Wenn der Tod durch die Station geht

  • Autorenbild: ignatius ounde
    ignatius ounde
  • 30. Sept.
  • 4 Min. Lesezeit
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Manchmal erleben wir im Krankenhaus, was ich den „Woche der Ernte“ nenne – eine Zeit, in der der Engel des Todes scheinbar häufiger durch die Gänge geht und unerwartet Leben nimmt. Es wird nie angekündigt, nie geplant, und doch spürt man es. Dieses Mal waren es vier ganz unterschiedliche Menschen, alle innerhalb kurzer Zeit. Ihre Geschichten sind bei mir geblieben.


Die erste war eine junge Frau, gerade 30 Jahre alt. Sie war um die Welt gereist, hatte Erfahrungen und Erinnerungen gesammelt und wollte sich nun niederlassen. Mit ihrem Freund war sie bereit, eine Familie zu gründen. Das Leben begann gerade Form anzunehmen – und dann war es plötzlich vorbei.


Der zweite war ein charmanter, fröhlicher Älpler. Ledig, mit 47 Kühen auf den Alpen, führte er ein stilles, aber erfülltes Leben. Er war stark und unabhängig, tief verwurzelt im Rhythmus der Berge. Und dann, ohne Vorwarnung, war auch er gegangen.


Der dritte Mann war seit Jahren chronisch krank. Er hatte der Gesellschaft den Rücken gekehrt, und die Gesellschaft ihm. Als er starb, stellten wir fest, dass es keine Angehörigen zu benachrichtigen gab. Nur einen Nachbarn, der ab und zu vorbeischaute, aber nicht als Kontaktperson registriert war. Ich werde nie vergessen, wie ich diesem Nachbarn vom Tod berichtete. Ich fragte, ob er den Verstorbenen noch sehen wolle. Er sagte nein und ging. Es war ein seltsames, schweres Gefühl – dass ein Mensch, der 57 Jahre auf dieser Erde gelebt hat, geht, ohne dass jemand um ihn trauert. Wir im Krankenhaus waren vielleicht die Letzten, die sich um ihn gekümmert haben.


Der vierte war ein älterer Mann, fröhlich und gelassen. Ein Pensionär, nie ernsthaft krank gewesen, mit einer grossen Familie – vier Kindern und rund zehn Enkeln. Er nannte mich „Sonnenschein“ und liess nur mich Blut abnehmen oder eine Infusion legen. Wegen seiner guten Fitness entschieden sich die Ärzte für eine aggressive Therapie. Sie hätte ihn retten können oder töten. Leider geschah Letzteres. Doch er starb wenigstens im Kreis seiner Familie. So möchte ich eines Tages sterben – umgeben von Menschen, die ich liebe.


Fragen an das eigene Leben und Sterben


All diese Geschichten haben mich nach meinem eigenen Tod fragen lassen. Was möchte ich noch erreichen, bevor ich gehe?Was werde ich hinterlassen, wenn meine Zeit gekommen ist?Und wer wird bei mir sein, wenn ich meinen letzten Atemzug mache?

Als Pflegefachperson habe ich oft erlebt, wie dünn die Linie zwischen Leben und Tod ist. Menschen kommen voller Hoffnung ins Krankenhaus – und manchmal gehen sie nicht mehr hinaus. Wir denken oft, der Tod sei etwas Fernes, für Alte oder Kranke reserviert. Doch in den letzten Monaten habe ich wieder gesehen: Er kann jeden treffen, jederzeit.

Ich habe auch gesehen, welchen Unterschied Vorbereitung macht. Nicht nur medizinisch, sondern emotional, spirituell und praktisch. Menschen, die mit ihren Angehörigen gesprochen, ihre Wünsche aufgeschrieben oder offen über den Tod geredet haben, hinterlassen ein wenig weniger Chaos und ein wenig mehr Frieden.


Die Bedeutung von Vorbereitung

Diese Gedanken haben mich selbst zum Handeln gebracht. Ich habe bereits „Meine letzten Wünsche“ von der Krebsliga (Link hier) ausgefüllt sowie meine Patientenverfügung aktualisiert. Diese Dokumente sind nicht makaber. Sie sind Akte der Fürsorge – für meine Familie, für die Kolleginnen und Kollegen, die mich eines Tages vielleicht behandeln werden, und für mich selbst. Sie geben mir innere Ruhe und, so hoffe ich, erleichtern sie denjenigen, die ich zurücklasse.


Darüber hinaus beschäftige ich mich mit Advance Care Planning (ACP) – einem strukturierten Prozess, in dem Menschen gemeinsam mit Fachpersonen und ihren Angehörigen besprechen, welche medizinischen, pflegerischen und persönlichen Wünsche sie für den Fall schwerer Krankheit oder am Lebensende haben. ACP geht über eine reine Patientenverfügung hinaus: Es schafft Klarheit, fördert Gespräche innerhalb der Familie und stellt sicher, dass Entscheidungen im Einklang mit den eigenen Werten getroffen werden. Gerade in der Akutmedizin, wo Entscheidungen oft schnell gefällt werden müssen, kann ACP entscheidend dazu beitragen, dass der Wille des Menschen respektiert wird.



Als ich zuletzt an einer Beerdigung teilnahm, fiel mir auf, wie oft wir versuchen, ein perfektes Bild vom Verstorbenen zu zeichnen – aufzuzählen, was er getan hat, wer er war, ihn idealisiert darzustellen. Ich sagte mir: Ich möchte nicht, dass mein Leben erst nach meinem Tod idealisiert wird. Ich möchte mein bestes Leben jetzt leben. Und wenn meine Zeit gekommen ist, möchte ich, dass mein Abschied dieses Leben widerspiegelt – bis hin zur Musik, zum Essen und zur Stimmung. Ich möchte, dass er ein Fest ist, eine Feier eines gut gelebten Lebens. Genau deshalb habe ich das Broschur der Krebsliga ausgefüllt. Es hilft mir, meine letzten Wünsche zu organisieren – nicht aus Angst, sondern aus Liebe.


Leben heisst, sich dem Tod zu stellen


Sich auf den Tod vorzubereiten bedeutet nicht, das Leben aufzugeben. Es bedeutet, bewusst zu leben, im Wissen, dass unsere Zeit begrenzt ist. Es bedeutet, das zu sagen, was gesagt werden muss – das Danke, das Ich liebe dich, das Verzeih mir. Es bedeutet, sicherzustellen, dass die Menschen, die wir lieben, wissen, was wir wollten und wer wir waren.

Ich weiss nicht, wann mein eigener „Woche der Ernte“ kommen wird. Aber ich weiss, dass ich ein Leben führen möchte, das etwas Bedeutungsvolles hinterlässt. Und ich möchte anderen helfen, dasselbe zu tun – nicht nur als Pflegefachmann, sondern als Mensch.

 

 
 
 

1 Kommentar

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Gast
30. Sept.
Mit 5 von 5 Sternen bewertet.

Als jemand, der selbst Patient war, haben mich deine Worte sehr berührt. Während meines Krankenhausaufenthaltes habe ich gemerkt, wie schnell sich alles ändern kann. Vorher habe ich nie über eine Patientenverfügung oder letzte Wünsche nachgedacht – ich dachte, das sei etwas für viel später im Leben. Doch im Spitalbett habe ich die Dinge plötzlich anders gesehen.


Danke, dass du so offen darüber schreibst. Es gibt Menschen wie mir den Mut, mit der Familie zu sprechen, Dinge aufzuschreiben und dem Tod nicht mit Angst, sondern mit Würde zu begegnen. Ich bin dankbar für Fachpersonen wie dich, die uns daran erinnern, dass Vorbereitung auf den Tod in Wahrheit Vorbereitung auf ein bewusstes Leben ist.

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