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Wenn Pflege zur Frontlinie wird: Eskalation im Stationsalltag

  • Autorenbild: ignatius ounde
    ignatius ounde
  • vor 6 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit
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Es war ein Spätdienst auf der chirurgischen Station. Ich war gerade dabei, die Medikamente zu sortieren, als er plötzlich vor mir stand. Gross, vielleicht zehn Zentimeter grösser als ich, die Schultern angespannt, die Stimme laut und hart.

„Ich will meine Schmerzmedikamente – und der Arzt soll auch kommen!......... Jetzt!“

Sein Blick war fordernd, seine Haltung aggressiv. Für einen Moment stockte mir der Atem. Ich spürte, wie mein Körper reagierte – ein leichtes Zittern, ein halber Schritt zurück, mein Blick tastete unauffällig die Fluchtwege im Raum ab.

„Okay, ich habe Sie gehört“, antwortete ich ruhig. „Ich rufe die Ärztin oder den Arzt und bringe Ihre Medikamente.“

Kaum war ich im Stationszimmer, setzte ich mich. Erstmal atmen. Vier Sekunden ein, halten, vier aus, halten. Box Breathing – mein Anker, wenn es eng wird.

 

Wenn Erwartungen explodieren


Solche Situationen sind längst keine Ausnahme mehr. Was früher als seltener Ausnahmefall galt – ein Patient, der laut wird, Forderungen stellt, mit Druck reagiert – ist heute für viele Pflegende Alltag. Regelmässig, manchmal sogar täglich, erleben wir Eskalationen, die uns fordern, erschüttern, manchmal auch überfordern.

Diese Entwicklung ist kein Zufall. Sie ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Wir leben in einer Zeit der „Sofort-Logik“: Heute bestellt, heute geliefert. Die Erwartung, dass alles jederzeit verfügbar ist, hat sich tief in unser kollektives Verhalten eingeschrieben. Und sie macht nicht Halt vor Krankenhausmauern.

Im Spital zeigt sich diese Haltung in Sätzen wie:

  • „Ich will morgen wieder gesund sein.“

  • „Ich will den Chefarzt – sofort.“

  • „Ich erwarte Hotelservice – per Knopfdruck.“

Diese Aussagen sind keine blossen Wünsche – sie sind Ausdruck eines Anspruchsdenkens, das sich mit der Realität des Gesundheitswesens oft nicht vereinbaren lässt. Denn während draussen Amazon liefert, kämpfen wir drinnen mit Notfällen, Triage, Personallücken und komplexen Krankheitsbildern.

Was daraus entsteht, ist ein ständiges Aufeinanderprallen:  Erwartung trifft auf Möglichkeit. Anspruch trifft auf Systemgrenzen und dazwischen stehen wir – die Pflegenden.

Wir sind die Pufferzone zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Wir erklären, beruhigen, organisieren, dokumentieren – und tragen dabei nicht nur Verantwortung für medizinische Abläufe, sondern auch für emotionale Spannungen.

Für viele von uns bedeutet das:

  • Ständige Wachsamkeit.

  • Emotionale Selbstregulation.

  • Kommunikation unter Druck.

  • Und oft: das Gefühl, nicht zu genügen – obwohl wir alles geben.


Diese Realität ist nicht nur eine Herausforderung für Einzelne, sondern ein strukturelles Phänomen. Sie zeigt, wie dringend wir neue Wege brauchen: in der Kommunikation, in der Ausbildung, in der Personalplanung – und im gesellschaftlichen Verständnis dessen, was Pflege leistet.

Denn Pflege ist kein Lieferservice. Pflege ist Beziehung, Verantwortung, Präsenz. Und sie braucht Raum, Respekt – und realistische Erwartungen.


Wenn Wut zur Belastung wird


Für Auszubildende, teils gerade 16 Jahre alt, ist es oft ein Schock, wenn ein Patient, so alt wie ihr Vater oder Grossvater, lautstark auf sie losgeht. Aber auch erfahrene Kolleg*innen bleiben nicht unberührt.

Ich habe erlebt, wie Teammitglieder nach einem solchen Ausbruch zitternd das Zimmer verliessen. Wie manche sich vor dem nächsten Dienst fürchteten. Wie andere krank wurden oder bestimmte Patient*innen nicht mehr allein betreuen wollten.

Denn diese Wutausbrüche sind oft nicht punktuell. Sie geschehen auf dem Flur, im Zimmer, im Gespräch. Je nach Tagesform, je nach Frustration.

 

Was dann hilft – und wie wir handeln


Mit der Zeit lernt man, mit solchen Situationen umzugehen. Wir sprechen ruhig, halten körperlichen Abstand, nehmen die Menschen ernst – ohne uns selbst zu verlieren.

Deeskalation beginnt bei uns selbst:

Nicht sofort reagieren. Erst fühlen. Dann handeln.

Oft hilft schon ein ruhiger Ton, ein klarer Satz, ein aufrechter Körper. Manchmal aber auch: sich Hilfe holen. Frühzeitig. Nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke.

Wir werden dafür geschult. In Kommunikation, in Körpersprache, in Selbstschutz. Und wir dokumentieren jeden Vorfall. Nicht, um jemanden zu bestrafen – sondern um Muster zu erkennen. Und Strukturen zu verbessern.

 

Was nach dem Adrenalinschub passiert


Wenn die Situation vorbei ist, wenn der Puls wieder normal schlägt, beginnt die eigentliche Arbeit. Dann wollen wir verstehen:


Was ist passiert? Warum ist es eskaliert? Was können wir daraus lernen?

Dafür nutzen wir bei uns SOAS-R, die Staff Observation Aggression Scale – Revised. Eine einfache, standardisierte Methode, um Vorfälle aus fünf Perspektiven zu betrachten:

  1. Was hat die Eskalation ausgelöst?

  2. Wie hat sich die Aggression gezeigt?

  3. Wen hat sie getroffen?

  4. Welche Folgen hatte sie?

  5. Was hat letztlich geholfen, die Situation zu beruhigen?

Das klingt technisch – ist aber ein starkes Werkzeug. Denn wenn viele Situationen so erfasst werden, sehen wir plötzlich Muster: Wo häufen sich Vorfälle? Welche Massnahmen helfen wirklich? Wo müssen wir baulich, personell oder strukturell nachbessern?

Da Prävention besser ist als Nachsorge, setzen wir zusätzlich die RADAR-Methode ein – ein präventives Instrument, das Risiken frühzeitig erkennt und ein rechtzeitiges Eingreifen ermöglicht.


Zahlen, die erklären – aber nichts entschuldigen


Was wir erleben, ist kein persönliches Gefühl – es ist messbar:

  • Am Universitätsspital Basel werden täglich mehr als zwei Bedrohungssituationengemeldet. In drei Jahren hat sich diese Zahl verdoppelt.

  • In der Notaufnahme des CHUV Lausanne wurden 2024 fast 400 gewalttätige Patient*innen registriert – ein Anstieg von 24 % in nur zwei Jahren.

  • Die Schweiz hat mit 18,4 Pflegenden pro 1.000 Einwohner*innen zwar einen hohen Personalschlüssel – doch die Belastung wächst schneller als die Ressourcen.

  • Laut Prognosen des Gesundheitsobservatoriums (Obsan) steigt der Bedarf an Pflegekräften in der Alters- und Langzeitpflege bis 2040 massiv an.

Diese Zahlen sind keine Ausrede. Aber sie helfen, unsere Realität zu verstehen – und den Handlungsdruck einzuordnen.

 

Was uns hilft – im Moment der Eskalation


Ein paar Dinge, die wir im Alltag konkret tun:


Früh Orientierung geben.


Kurze Updates alle 20–30 Minuten. Nicht alles lösen – aber Druck rausnehmen.


Rollen klären – ruhig und klar.


„Ich bereite vor, die Ärztin entscheidet. Ich koordiniere das jetzt für Sie.“ Führung ohne Härte.


Selbstschutz ist Professionalität.


Abstand, tiefe Stimme, kurze Sätze – und früh Verstärkung holen.


Die Stillen ansprechen.


Nicht nur die Lauten brauchen Aufmerksamkeit. Zwei ruhige Fragen im Sitzen wirken oft Wunder.


Dokumentieren. Immer.


Nicht aus Prinzip – sondern zum Schutz. Für uns, fürs Team, für die Patient*innen.

 

Pflege braucht mehr als Fachwissen – sie braucht Sicherheit


Verbale Aggression war lange ein Tabuthema – heute wissen wir: Sie ist ein echter Stressfaktor. Und sie wird nicht verschwinden.

Deshalb ist Gewaltprävention kein „nice to have“, sondern ein essenzieller Bestandteil unseres Berufs. Dazu gehören:

  • Kommunikationstrainings

  • Selbstreflexion und Teamroutinen

  • Resilienzförderung und Supervision

  • Klare Strukturen und echte Unterstützung

Denn Pflege kann nur dann wirklich für andere da sein – wenn wir zuerst auch auf uns achten dürfen.


 
 
 

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