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Einfach da sein, wenn es zählt

  • Autorenbild: ignatius ounde
    ignatius ounde
  • 10. Juni
  • 5 Min. Lesezeit

Ich mag Spätdienste. Da hat sich der Sturm des Tages meist gelegt. Die Visiten sind durch, die Diagnostik sind durchgeführt, der Druck vom Vormittag verflogen. Es bleibt diese besondere Ruhe zurück – das Summen der Monitore, Schritte auf dem Boden, der entfernte Duft von Desinfektionsmittel. In diesen Momenten spüre ich oft am stärksten, warum ich Pflege mache. Dann kann ich mich ganz den Menschen widmen, die mir anvertraut sind. Ihre Geschichten hören, ihre Sorgen auffangen, mit ihnen gemeinsam durch den Abend gehen.

Heute hatte ich sechs Patient:innen auf meiner Liste. Eigentlich eine machbare Zahl – zumindest bei uns. In anderen Spitäler sind’s oft mehr. (Und übrigens, falls du Pflege machst: Wir haben ein wirklich gutes Team – komm gern zu uns.) Aber wie so oft ist es nicht die Anzahl, sondern die Komplexität, die den Takt vorgibt. Und heute war das Tempo hoch.


Unser Abteilung war voll – 21 Betten belegt oder in Kürze belegt, denn zwei Notfälle waren angekündigt. Und wir waren heute zu viert im Pflegeteam 3 dipl und 1 FaGe . Vier Menschen für 21 Schicksale. Aber wir funktionierten – wie ein eingespieltes Quartett. Jeder Schritt sass, jedes Wort war selten, aber wirkungsvoll. Wir fingen einander auf, ganz selbstverständlich. So wurde dieser dichte Dienst tragbar.

Einer meiner sechs Patienten ist mir noch besonders in Erinnerung: ein fast 100 Jahre alter Mann, schlank, aufmerksam und freundlich. Er war aufgestanden, hatte mit seiner Tochter am Fenster telefoniert und darüber gesprochen, wie er über das Wochenende vielleicht heimgehen könnte. Als ich heute seinen Namen auf dem Plan las – und es wurde berichtet, dass er terminal sei – musste ich kurz innehalten. Eine plötzliche, schwere Diagnose, Er hatte sich gegen Operation entschieden, sich „aufmachen zu lassen“, wie er es nannte. In seinem Alter, sagte er, wolle er kein Messer mehr. Ich verstand ihn. Ich hätte wahrscheinlich genauso entschieden.


Zwei weitere Patientin bekamen parallel Chemotherapien – je drei verschiedene Präparate, kombiniert mit Antikörpertherapie. Das bedeutet: genaue Timings, keine Spielräume. Die Abfolge ist medizinisch entscheidend – eine falsche Reihenfolge, eine Verzögerung, und der Körper könnte völlig anders reagieren. Ich rannte also von Pumpe zu Pumpe, kontrollierte Laufzeiten, dokumentierte jede Minute und hatte Pech: Die beiden lagen in verschiedenen Zimmern. Noch dazu war eine wegen ESBL isoliert – das bedeutet: Maske, Schutzkittel, Handschuhe. Jeder Eintritt ins Zimmer wird zum Ritual. Es dauert, kostet Kraft, macht warm. Ich spürte den Schweiss unter der Maske, hörte mein eigenes Atmen, während ich zwischen Pieptönen und Tropfkontrollen hin- und herging.

Drei weitere Patient:innen waren zur Radiotherapie bei uns. Pflegeleicht, könnte man sagen – aber jeder Mensch hat sein Paket. Manche brauchen nur ab und zu Schmerzmittel oder Schlaftabletten, andere ein offenes Ohr. Ein Mann fragte mich nach einem zweiten Kissen, weil er nicht mehr so tief liegen konnte – seine Lunge drückte, sagte er. Ich nahm mir die Zeit. Manchmal liegt die Menschlichkeit genau da: im zweiten Kissen.


Zwischendurch kam ein Anruf vom urologischen Dienst. Wir hatten bei einem Patienten Schwierigkeiten mit dem Katheterlegen. Solche Situationen sind technisch anspruchsvoll, besonders bei älteren Männern. Die Anatomie verändert sich, die Schleimhäute sind empfindlich, manchmal blockieren kleine Widerstände den Zugang. Ich hatte es versucht, eine Kollegin hatte es versucht – irgendwann ist klar: Wir brauchen den Konsil. Und auch das bedeutet wieder erklären, planen, koordinieren. Immer begleitet von der Gewissheit: Du bist nie allein, wenn dein Team funktioniert.

Parallel dazu rief mich die Familie meines terminalen Patienten. Sie wollten eine höhere Dosis Morphin. Ich verstand ihren Wunsch. Sie wollten ihn ruhig wissen, schmerzfrei. Sie wollten Kontrolle – über das Unkontrollierbare.

Ich rief die diensthabende Ärztin an. Sie kam umgehend und nahm neben mir Platz, während ich mit den Angehörigen sprach. Ich erklärte unser Vorgehen: Wir halten uns strikt an die ärztliche Verordnung, denn zu viel Morphin kann die Atmung stoppen, und ich bewege mich in einem medizinisch wie juristisch sensiblen Bereich. Die Ärztin hörte ruhig zu und gab mir damit Rückhalt, während ich die Fakten verständlich und einfühlsam vermittelte. Langsam merkte ich, wie die Anspannung nachliess. Ich hatte den Eindruck, sie fühlten sich ernst genommen und gehört. Manchmal reicht das.



Es war kurz nach sieben. Mein Magen knurrte laut – gerade waren einige Chemo-Gaben abgeschlossen und die Notfälle, die hereinkamen, waren glücklicherweise nicht allzu komplex. Ein perfekter Moment, um eine Pause zu machen und mein Essen in Ruhe zu geniessen. Doch ich beschloss, vorher noch einmal beim alten Mann vorbeizuschauen.

Als ich das Zimmer betrat, standen seine Angehörigen um sein Bett. Seine Atempausen wurden immer länger, und ich wusste, dass seine Zeit gekommen war. Sanft legte ich meine Hand auf seine Schulter, sah ihm in die Augen und sagte ihm: „Ich wünsche dir eine gute Reise.“ Dann trat ich einen Schritt zurück und liess ihn in ihrem Kreis.

Fünf Minuten später rief mich seine Tochter an: „Er atmet nicht mehr.“ Ich atmete tief durch und war dankbar, dass er in Frieden, ohne Schmerz und Kampf und umgeben von seiner liebevollen Familie gegangen war.

Keine Geräusche. Kein Kampf. Nur dieser Moment – warm, würdevoll, endgültig. Es war ein Tod, wie ich ihn mir für jede:n wünsche, der oder die im Spital stirbt.

Ich drehte mich um, schloss die Tür leise. Die Pause war vorbei, bevor sie begann. Wir begannen mit dem, was ich Last Office nenne. Den Körper waschen, würdevoll anziehen, eine Kerze anzünden, das Zimmer lüften. Die Angehörigen begleiten. Tränen halten. Worte finden, wo eigentlich keine reichen. Dann später der Transport in den Kühlraum.

Als ich mich um 21 Uhr endlich zum Essen setzen konnte, war ich erschöpft. Ich ass langsam, schweigend, mit schwerem Kopf.

Mein Dienst lief weiter – Kontrollgänge, letzte Checks, nochmal zwei Neuaufnahmen vorbereiten. Es war eng. Aber auch da: Wir vier halfen einander. Jeder wusste, was zu tun war. Und das machte alles tragbar. Und würdevoll.


Und dann war es 23:50. Ich stand im Zürcher Hauptbahnhof. Um mich herum: junge Menschen auf dem Weg in den Ausgang. Leichte Kleidung, Parfüm, Musik aus offenen Kopfhörern. Ich blieb kurz stehen, sah ihnen nach. Dachte: Vielleicht wäre das mein Leben, wenn ich zehn Jahre jünger wäre. Vielleicht wäre ich jetzt unterwegs in eine Bar, auf einen Drink, oder Disco.


Aber heute?


Heute will ich einfach nur nach Hause und schlafen.


Ich habe das Gefühl, leer zu sein – und gleichzeitig erfüllt. Weil ich da war, als es zählte. Weil ich Hände gehalten, Entscheidungen begleitet, Menschen gestützt habe. Und weil ich gespürt habe, dass das, was ich tue, einen Unterschied macht.


Solche Dienste gehen einem nahe. Noch Tage später hallen sie in mir nach. Sie machen mir bewusst, wer ich bin – und warum ich bleibe. Vielleicht schreibe ich genau deshalb diesen Blog: Der Blog ist mein Instrument zur Reflexion und Aufarbeitung

Ich erzähle diesen Abend, weil er das Wesen der Pflege zeigt: stille Stärke.

Denk an deine letzte Begegnung mit Pflege – an das leise Tragen, das Bleiben, wenn es schwer wird.

Nimm diesen Gedanken mit in die Nacht und denk an ihn, der lautlos gegangen ist.



 
 
 

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