Mehr Leben oder mehr Würde? Entscheidungen am Lebensende
- ignatius ounde
- 10. Juli
- 3 Min. Lesezeit

Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment. Das Zimmer war ruhig, das Licht weich, fast sanft. Eine 87-jährige Patientin lag im Bett, aufrecht, wach, mit einem wachen Blick und einer charmanten Art, die einem sofort das Herz öffnete. Die Diagnose: fortgeschrittener Darmkrebs. Das ärztliche Team diskutierte über eine Chemo/Immuntherapie – vielleicht wirksam. I
ch ging später noch einmal zu ihr, um nach dem Rechten zu sehen. Wir sprachen über das Übliche – Schmerzen, Essen, Besuch. Dann sah sie mir plötzlich direkt in die Augen und fragte leise, aber mit einer unglaublichen Klarheit:
„Was bringt mir das denn noch? ich bin bald 90“
Ich stockte. Meinte sie die Erfolgschancen der Therapie? Oder stellte sie die ganz grosse Frage – die Frage aller Fragen: Lohnt es sich?
Diese Frage lässt mich nicht los. Als Pflegefachmann, der täglich mit älteren, krebskranken Menschen arbeitet, berührt sie mich tief. Und als politisch engagierter Mensch weiss ich: Sie geht weit über das Medizinische hinaus. Sie betrifft unsere Haltung zum Alter, zur Krankheit – und letztlich zum Leben selbst.
Die Patientin entschied sich damals gegen die Chemotherapie und gegen die Immuntherapie. Sie wollte keine aggressive Behandlung mehr – sie wollte Ruhe, Klarheit und Würde. Einige Wochen später ist sie gestorben. Ich glaube, es war in Frieden.
Die Grenzen der Medizin im hohen Alter
Krebs im hohen Alter ist längst keine Ausnahme mehr. Die Menschen leben länger, Diagnosen werden früher gestellt, Therapien raffinierter. Aber: Viele dieser Therapien wurden nie an Hochbetagten getestet. Multimorbidität, Polypharmazie, Demenz – sie verändern das Spiel grundlegend.
Immer wieder erlebe ich, wie überfordert Angehörige und Patient:innen sind. Sie suchen nach Hoffnung – und gleichzeitig nach Ehrlichkeit. Nicht alles, was medizinisch machbar ist, ist auch sinnvoll. Und manchmal bedeutet Menschlichkeit: Weniger ist mehr.
Ethik beginnt mit Zuhören
Es gibt diesen schmalen Grat zwischen dem Wunsch, Lebenszeit zu gewinnen – und der Gefahr, nur Leid zu verlängern. Ich habe Menschen begleitet, die um jeden Tag kämpften. Und andere, die nach der Diagnose das Leben noch einmal mit neuen Augen sahen, aber auf Therapie verzichteten.
Beides ist richtig. Beides verdient Respekt.
Doch was passiert, wenn jemand diese Entscheidung nicht mehr selbst treffen kann? Wenn eine demente Patientin eine hochtoxische Chemotherapie erhält, weil „man ja etwas tun muss“ – für wen tun wir das dann? Für die Betroffene? Für uns? Für ein System, das Aktivität belohnt, nicht Innehalten?
Kosten – das leise Tabu
Wir reden ungern darüber, aber es gehört zur Wahrheit: Die Schweiz ist nach den USA das teuerste Land im Gesundheitswesen. Hochpreisige Therapien belasten das System. In einem solidarisch finanzierten System wie dem unsrigen ist das nicht nur eine medizinische, sondern auch eine politische Frage.
Was viele nicht wissen: Gerade in der Pflege sehen wir, dass teil der Palliativangebote, psychologische Begleitung oder Case Management oft nicht kostendeckend sind – obwohl sie mehr zur Lebensqualität beitragen können als jede Spritze. Diese Lücke ist ein Systemfehler.
Lebensqualität ist mehr als Lebensdauer
Aus pflegerischer Sicht weiss ich: Lebensqualität lässt sich nicht in Tagen messen, sondern in Momenten.
In einem Spaziergang im Garten.
In einem Lächeln beim Anblick der Enkelin.
In einer Tasse Tee, getrunken in Ruhe, ohne Schmerzen, in Gesellschaft.
Viele alte Menschen wollen nicht mehr „geheilt“ werden. Sie wollen in Frieden leben – mit Würde. Nicht isoliert, nicht mit Schläuchen, nicht unter Schmerzen. Dafür braucht es mehr Palliativpflege, mehr Beratung, mehr Mut zu ehrlichen Gesprächen. Und Pflegefachpersonen, die mitentscheiden dürfen – als gleichwertige Stimmen am Tisch.
Ich bin ein grosser Befürworter von Digitalisierung und KI im Gesundheitswesen. Aber dieser Teil, dieser ganz menschliche Teil – das stille Zuhören, das Deuten eines Blicks, das Halten einer Hand – das wird nie ein Algorithmus übernehmen.
Menschlichkeit als Richtwert
Ich wünsche mir, dass wir die Frage „Lohnt es sich?“ nicht nur mit medizinischen Leitlinien beantworten, sondern mit Herz, mit Zuhören, mit Zeit. Dass wir Patientenverfügungen ernst nehmen, Angehörige nicht mit Schuldgefühlen alleinlassen und die Stimme der Pflege am Entscheidungstisch hören.
Denn was bedeutet es eigentlich, „zu leben“ – wenn es nur noch um Tage, aber nicht mehr um Momente geht? Ist es das längere Leben, das zählt – oder das intensivere? Und was wären wir bereit dafür aufzugeben: Autonomie? Lebensfreude? Nähe?
Wie viel ist uns ein würdevolles Altern wert, wenn es keine Heilung mehr verspricht? Wenn es nicht um Sieg über die Krankheit geht, sondern um einen friedlichen Umgang mit ihr?
Was wiegt für dich persönlich mehr: ein paar Monate mehr – eventuell mit Schmerzen, Nebenwirkungen, Kontrollverlust? Oder weniger Zeit – aber in Ruhe, mit Sinn, in Würde?
Ich hoffe, dass wir als Gesellschaft solche Fragen nicht verdrängen, sondern sie offen diskutieren.
Als Politiker wünsche ich mir, dass diese Themen nicht zwischen Fallpauschalen und Technikversprechen untergehen.
Als Pfleger höre ich weiter zu.
Und als Mensch wünsche ich mir, dass ich eines Tages – wenn ich selbst frage: „Lohnt es sich?“ – verstanden werde.


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