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Zwischen Autonomie und Abhängigkeit: Zwei Zimmer, ein Dilemma – und wie wir die Balance finden

  • Autorenbild: ignatius ounde
    ignatius ounde
  • 11. Sept.
  • 6 Min. Lesezeit
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Ich erinnere mich, als ich auf einer chirurgischen Abteilung arbeitete: Immer wieder habe ich mich gefragt, warum sich manche Menschen im Spital so fest an ihrer Selbstständigkeit halten, während andere alles abgeben – selbst Dinge, über die sie zu Hause nicht einmal nachdenken. Diese Frage stellt sich mir oft gleich nach der ersten Morgenrunde, wenn der Tag noch frisch ist und die Routinen die Zimmer erst langsam erreichen.


Frau R. ist 91. Ihre Hände dünn, die Haut zart wie Seidenpapier. „Ich möchte meine eigenen Kleider anziehen“, sagt sie, als meine Studentin schon die Hilfe anbietet, ganz automatisch, wie man es lernt. Ein kurzer Blick zwischen uns. Wir nicken. „Gut. Wir sind da, falls etwas wackelt.“ Es dauert. Die Strümpfe fordern Geduld, der Arm in die Bluse findet erst nach dem zweiten Versuch den Weg. Ich sehe, wie meine Studentin unruhig wird – der Blick wandert zur Uhr. Das Frühstück kommt bald und doch geschieht etwas in diesen zehn Minuten, das mit keiner Infusion und keinem Medikament zu ersetzen ist: Frau R. setzt sich schliesslich angezogen an den Bettrand. Sie atmet durch. Die Stirn glättet sich. In ihren Augen liegt dieses stille Leuchten, das weniger mit Stoff als mit Selbstwirksamkeit zu tun hat. Sie hat es gemacht. Nicht perfekt, nicht schnell – aber selbst.


Im Zimmer daneben ist die Wirklichkeit eine andere. Unser jüngerer Patient mag nicht aufstehen. Bis nach neun schläft er, und als er wach ist, ruft er. Für Wasser. Für die Vorhänge. Für das Fenster. Für Dinge, die er zu Hause wie im Schlaf erledigen würde, ohne zu zögern. Es klingt höflich, fast wie Bestellen im Hotel: „Könnten Sie…? Würden Sie…?“ Es ist nicht Faulheit. Da ist Müdigkeit, ja, und vielleicht ein bisschen Angst. Aber vor allem ist da ein Ort, der wie ein All-inclusive-Wellnesshotel wirkt: alles verfügbar, immer jemand in der Nähe, der etwas übernimmt. Ich merke, wie schnell ein Haus, das eigentlich Heilung ermöglichen soll, in eine unsichtbare Choreografie rutscht: Wir bedienen, ihr lasst machen. Und mit jedem „Ich bringe Ihnen das“ wird das Bett bequemer, die Schwelle höher, die nächste Eigenleistung unwahrscheinlicher.


Zwischen diesen beiden Zimmern – zwischen „Ich kann selbst“ und „Macht ihr mal“ – spannt sich ein unsichtbares Seil. Auf der einen Seite Autonomie, auf der anderen das angenehme Loslassen. Die meisten von uns pendeln irgendwo dazwischen. Weil Kranksein erschöpft. Weil man sich gerne, wenigstens für heute, in jemanden hineinlehnt, der sagt: „Ich übernehme das.“ Das kann tröstlich sein. Und doch: Wenn wir zu lange liegen, verlernen wir das Aufstehen.  Und heute, in der Onkologie, erlebe ich diese Spannung genauso – andere Diagnosen, dieselbe stille Dynamik.


Ich beobachte, wie Sprache Rollen verteilt. „Wir machen jetzt die Morgentoilette“, sagen wir schnell, wenn es eilt, und meinen es freundlich. Aber es macht einen Unterschied, ob ich sage „Ich mache“ oder „Was möchten Sie selbst übernehmen? Ich bin hier und sichere ab.“ Es macht einen Unterschied, ob Kleider in Griffnähe sind oder im Schrank hinter zwei Türen. Ob ein Glas Wasser auf dem Tisch steht oder erst gerufen werden muss. Kleine Dinge lenken grosse Entscheidungen, ohne dass wir es merken. Die Krankenrolle, die die Gesellschaft bereitwillig anbietet – ausruhen, gehorchen, nichts riskieren – kann entlasten. Sie kann aber auch leise lehren, dass Initiative unerwünscht ist. Warten. Fragen. Nicht selbst anfangen.


Dabei weiss ich aus Erfahrung: Schon wenige Tage Inaktivität hinterlassen Spuren. Wer fünfmal am Tag nicht zum Fenster geht, wird sich am sechsten Tag unsicher fühlen. Wer nicht selbst die Strümpfe zieht, verliert nicht nur Fingerfertigkeit, sondern einen Teil des Satzes „Ich bin noch ich.“ Und das Spital selbst, so paradox es klingt, kann Verletzlichkeit produzieren: wenig Schlaf, wechselnde Routinen, viele Stimmen, eine Klingel, die alles kann – ausser motivieren.


Ich erzähle meiner Studentin von der Idee, das Spital nicht als Hotel zu denken, sondern als Trainingsraum. Ein gutes Hotel nimmt dir ab, was lästig ist. Ein gutes Spital gibt dir zurück, was du brauchst, um zu Hause wieder durch den Tag zu kommen. Beides hat Komfort – aber unterschiedliches Ziel. In der Schweiz gibt es Häuser, die Elemente aus der Hotellerie bewusst so einsetzen, dass Menschen möglichst viel selbst tun können: kurze Wege, klare Beschilderung, Essräume statt Tabletts am Bett, Wasser zum Selberholen, wenn es sicher ist. Komfort, der Fähigkeit ermöglicht. Diese Logik mag unspektakulär klingen, aber sie verändert Haltungen – bei uns, bei den Patientinnen und Patienten, bei Angehörigen.

Zurück zum Morgen. Bei Frau R. klopfen wir später an, um beim Aufstehen Richtung Frühstück zu sichern. „Ich habe es geschafft“, sagt sie, als wäre das ein Geheimnis zwischen uns. Ich grinse. „Ich habe es gesehen.“ Sie nimmt meinen Arm nicht, als ich ihn anbiete. Sie will nur, dass ich neben ihr gehe. Und genau das ist der Punkt: Orientierung ja, Abnahme nein. Sie will können. Und wir wollen, dass sie wieder kann.


Beim jungen Mann setze ich mich auf die Kante des Bettes. „Darf ich ehrlich sein? Zu Hause machen Sie diese Dinge selbst. Wollen wir hier gemeinsam anfangen? Ich bleibe in der Nähe, falls etwas wackelt.“ Er schaut zur Seite, dann zu mir. „Wenn Sie da sind…“ – „Ich bin da.“ Wir öffnen die Vorhänge zusammen. Es knarzt ein bisschen. Er füllt sich das Wasser. Der Boden fühlt sich unter den Hausschuhen zuerst fremd an, dann normaler. In solchen Momenten höre ich oft einen unhörbaren Klick, als würde irgendwo im Kopf ein Schalter umgelegt: Ach so, ich darf anfangen. Ich muss nicht warten, bis jemand sagt, dass ich darf.


Es gibt Tage, an denen sich die Waage nicht so leicht neigen lässt. Wenn ein Sturz droht oder der Kreislauf schwankt oder Schmerzen jede Bewegung teuer machen. Sicherheit geht vor, keine Frage. Aber Sicherheit entsteht nicht automatisch durch Stillstand. Sie entsteht durch Begleitung, durch vorausschauende kleine Schritte, durch Routen, die wir abstecken: bis zum Fenster, bis zum Waschbecken, eine Runde um die Station. Durch Schuhe, die nicht rutschen. Durch Licht, das nicht blendet. Durch Griffe, die man erreicht, ohne zu turnen. Alles banal – bis man es braucht.


Ich merke, wie sehr es hilft, Erfolge sichtbar zu machen. Nicht nur Laborwerte, sondern auch: heute selbst angezogen; heute zweimal bis zum Gang; heute ohne Rufen Wasser geholt. Wenn wir solche Dinge laut sagen, wenn wir sie feiern, selbst nur mit einem Nicken, merken Menschen: Das zählt. Es lohnt sich. Das ist nicht ein Extra, sondern Teil der Behandlung. Es verändert auch uns: Wer Erfolge sucht, spricht anders. Wer anders spricht, löst anderes aus.

Manchmal erzähle ich von den Bewegungstagen, die es in Schweizer Spitälern gibt. Von Initiativen, die Teams ermutigen, Patientinnen und Patienten regelmässig „aus dem Pyjama“ zu bringen – nicht als Event, sondern als Selbstverständlichkeit. Von Ideen wie einem „Aktivitäts-Board“ im Stationszimmer, auf dem wir ankreuzen, was heute schon geklappt hat: sitzen, stehen, gehen, anziehen, waschen. Das klingt spielerisch, ist aber tief ernst: Jeder Haken mehr ist ein Stück Unabhängigkeit.


Meine Studentin fragt, ob wir damit nicht manche überfordern. Es ist eine gute Frage. „Wir überfordern, wenn wir Ziele fremdbestimmen“, sage ich. „Wir fördern, wenn wir fragen: Was trauen Sie sich zu? Was möchten Sie ausprobieren? Ich stehe daneben. Wenn es zu viel ist, stoppen wir.“ Das ist keine wilde Philosophie, sondern Alltag in kleinen Dosen: Ich starte, du sicherst. Du startest, ich sichere. Irgendwann startest du, und ich schaue durch die offene Tür.

Gegen Mittag treffe ich Frau R. im Aufenthaltsraum. Sie sitzt aufrecht, das Besteck ordentlich in der Hand, als hätte sie geübt. Vielleicht hat sie das. Vielleicht hat sie gestern geübt und vorgestern. Vielleicht übt sie seit neunzig Jahren, sich selbst zu bleiben, egal, wo sie ist. Der junge Mann kommt später – ein wenig später, immerhin – und wählt sich das Wasser selbst. Er lacht, als das Glas zu voll geworden ist. „Ich habe es unterschätzt“, sagt er. „Passiert“, sage ich. „Morgen schaffst du es auf die Linie unter dem Rand.“


Wenn ich abends die Dokumentation abschliesse, ist es verlockend, nur die Zahlen zu sehen: Puls, Temperatur, Druck. Aber irgendwo zwischen den Zeilen stehen die anderen Werte: Selbst angefangen. Hilfe nur punktuell. Weniger Klingeln. Besserer Schlaf. Grössere Schritte. Die Medizin braucht Zahlen, ja. Der Mensch braucht Erfahrungen, die sagen: Ich wirke noch. Man kann diesen Satz nicht verordnen; man muss ihm Platz machen.


Beide Zimmer von heute bleiben mir noch eine Weile im Kopf. Das eine, in dem Zeit das eigentliche Medikament war. Das andere, in dem ein kleiner, gemeinsamer Anfang eine grosse Erwartung gedreht hat. Ich wünsche mir, dass wir Spitäler denken wie Brücken: Sie tragen dich von einer verletzlichen Stelle zur nächsten festen Stufe. Und auf dieser Brücke soll es bequem sein, ja – aber so, dass du beim Gehen stärker wirst, nicht schwächer.


Vielleicht hast du selbst schon im Spital gelegen. Vielleicht erinnerst du dich daran, wie es war, die Klingel in der Hand zu halten und zu überlegen, ob du drückst oder aufstehst. Vielleicht warst du eher die Kämpferin, die morgens als Erste angezogen im Stuhl sass. Vielleicht eher der Gast, der sich für heute gerne hat bedienen lassen. Beides ist verständlich. Entscheidend ist, dass wir uns – Pflege, Ärztinnen, Therapeuten, Angehörige und Patientinnen und Patienten – immer wieder dieselbe Frage stellen: Was kann ich heute selbst tun, mit jemandem an meiner Seite?


An manchen Tagen ist die Antwort klein: Socken anziehen. Einmal zum Fenster gehen. Wasser holen. An anderen Tagen ist sie grösser: duschen, Treppe, Essraum. Autonomie wächst selten im Sprint. Sie entsteht in zehn langsamen Minuten am Morgen, in denen eine 91-Jährige eine Bluse schliesst. In zwei Schritten am Mittag, die erst zögern und dann fester werden. In einem Lächeln am Abend, das sagt: Ich habe mehr getan, als ich dachte.

Und wenn ich die Station verlasse und die Tür hinter mir ins Schloss fällt, nehme ich diesen Satz mit wie eine leise Erinnerung: Komfort soll Fähigkeit ermöglichen. Alles andere ist nett – aber nicht heilend.

 
 
 

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