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Manchmal erleben wir im Krankenhaus, was ich den „Woche der Ernte“ nenne – eine Zeit, in der der Engel des Todes scheinbar häufiger durch die Gänge geht und unerwartet Leben nimmt. Es wird nie angekündigt, nie geplant, und doch spürt man es. Dieses Mal waren es vier ganz unterschiedliche Menschen, alle innerhalb kurzer Zeit. Ihre Geschichten sind bei mir geblieben.


Die erste war eine junge Frau, gerade 30 Jahre alt. Sie war um die Welt gereist, hatte Erfahrungen und Erinnerungen gesammelt und wollte sich nun niederlassen. Mit ihrem Freund war sie bereit, eine Familie zu gründen. Das Leben begann gerade Form anzunehmen – und dann war es plötzlich vorbei.


Der zweite war ein charmanter, fröhlicher Älpler. Ledig, mit 47 Kühen auf den Alpen, führte er ein stilles, aber erfülltes Leben. Er war stark und unabhängig, tief verwurzelt im Rhythmus der Berge. Und dann, ohne Vorwarnung, war auch er gegangen.


Der dritte Mann war seit Jahren chronisch krank. Er hatte der Gesellschaft den Rücken gekehrt, und die Gesellschaft ihm. Als er starb, stellten wir fest, dass es keine Angehörigen zu benachrichtigen gab. Nur einen Nachbarn, der ab und zu vorbeischaute, aber nicht als Kontaktperson registriert war. Ich werde nie vergessen, wie ich diesem Nachbarn vom Tod berichtete. Ich fragte, ob er den Verstorbenen noch sehen wolle. Er sagte nein und ging. Es war ein seltsames, schweres Gefühl – dass ein Mensch, der 57 Jahre auf dieser Erde gelebt hat, geht, ohne dass jemand um ihn trauert. Wir im Krankenhaus waren vielleicht die Letzten, die sich um ihn gekümmert haben.


Der vierte war ein älterer Mann, fröhlich und gelassen. Ein Pensionär, nie ernsthaft krank gewesen, mit einer grossen Familie – vier Kindern und rund zehn Enkeln. Er nannte mich „Sonnenschein“ und liess nur mich Blut abnehmen oder eine Infusion legen. Wegen seiner guten Fitness entschieden sich die Ärzte für eine aggressive Therapie. Sie hätte ihn retten können oder töten. Leider geschah Letzteres. Doch er starb wenigstens im Kreis seiner Familie. So möchte ich eines Tages sterben – umgeben von Menschen, die ich liebe.


Fragen an das eigene Leben und Sterben


All diese Geschichten haben mich nach meinem eigenen Tod fragen lassen. Was möchte ich noch erreichen, bevor ich gehe?Was werde ich hinterlassen, wenn meine Zeit gekommen ist?Und wer wird bei mir sein, wenn ich meinen letzten Atemzug mache?

Als Pflegefachperson habe ich oft erlebt, wie dünn die Linie zwischen Leben und Tod ist. Menschen kommen voller Hoffnung ins Krankenhaus – und manchmal gehen sie nicht mehr hinaus. Wir denken oft, der Tod sei etwas Fernes, für Alte oder Kranke reserviert. Doch in den letzten Monaten habe ich wieder gesehen: Er kann jeden treffen, jederzeit.

Ich habe auch gesehen, welchen Unterschied Vorbereitung macht. Nicht nur medizinisch, sondern emotional, spirituell und praktisch. Menschen, die mit ihren Angehörigen gesprochen, ihre Wünsche aufgeschrieben oder offen über den Tod geredet haben, hinterlassen ein wenig weniger Chaos und ein wenig mehr Frieden.


Die Bedeutung von Vorbereitung

Diese Gedanken haben mich selbst zum Handeln gebracht. Ich habe bereits „Meine letzten Wünsche“ von der Krebsliga (Link hier) ausgefüllt sowie meine Patientenverfügung aktualisiert. Diese Dokumente sind nicht makaber. Sie sind Akte der Fürsorge – für meine Familie, für die Kolleginnen und Kollegen, die mich eines Tages vielleicht behandeln werden, und für mich selbst. Sie geben mir innere Ruhe und, so hoffe ich, erleichtern sie denjenigen, die ich zurücklasse.


Darüber hinaus beschäftige ich mich mit Advance Care Planning (ACP) – einem strukturierten Prozess, in dem Menschen gemeinsam mit Fachpersonen und ihren Angehörigen besprechen, welche medizinischen, pflegerischen und persönlichen Wünsche sie für den Fall schwerer Krankheit oder am Lebensende haben. ACP geht über eine reine Patientenverfügung hinaus: Es schafft Klarheit, fördert Gespräche innerhalb der Familie und stellt sicher, dass Entscheidungen im Einklang mit den eigenen Werten getroffen werden. Gerade in der Akutmedizin, wo Entscheidungen oft schnell gefällt werden müssen, kann ACP entscheidend dazu beitragen, dass der Wille des Menschen respektiert wird.



Als ich zuletzt an einer Beerdigung teilnahm, fiel mir auf, wie oft wir versuchen, ein perfektes Bild vom Verstorbenen zu zeichnen – aufzuzählen, was er getan hat, wer er war, ihn idealisiert darzustellen. Ich sagte mir: Ich möchte nicht, dass mein Leben erst nach meinem Tod idealisiert wird. Ich möchte mein bestes Leben jetzt leben. Und wenn meine Zeit gekommen ist, möchte ich, dass mein Abschied dieses Leben widerspiegelt – bis hin zur Musik, zum Essen und zur Stimmung. Ich möchte, dass er ein Fest ist, eine Feier eines gut gelebten Lebens. Genau deshalb habe ich das Broschur der Krebsliga ausgefüllt. Es hilft mir, meine letzten Wünsche zu organisieren – nicht aus Angst, sondern aus Liebe.


Leben heisst, sich dem Tod zu stellen


Sich auf den Tod vorzubereiten bedeutet nicht, das Leben aufzugeben. Es bedeutet, bewusst zu leben, im Wissen, dass unsere Zeit begrenzt ist. Es bedeutet, das zu sagen, was gesagt werden muss – das Danke, das Ich liebe dich, das Verzeih mir. Es bedeutet, sicherzustellen, dass die Menschen, die wir lieben, wissen, was wir wollten und wer wir waren.

Ich weiss nicht, wann mein eigener „Woche der Ernte“ kommen wird. Aber ich weiss, dass ich ein Leben führen möchte, das etwas Bedeutungsvolles hinterlässt. Und ich möchte anderen helfen, dasselbe zu tun – nicht nur als Pflegefachmann, sondern als Mensch.

 

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Unsere Gesellschaft altert. Das ist bekannt – und doch entfaltet sich darin eine Dynamik, die wir erst beginnen zu verstehen. Die Babyboomer treten ins Rentenalter ein, sind aber nicht „alt“ im klassischen Sinn: Viele bleiben gesund, aktiv und voller Energie. Sie haben jahrzehntelang gearbeitet und tragen die Haltung in sich: Arbeit ist Leben. Ich erlebe diesen Wandel aus zwei Blickwinkeln: morgens am Bett meiner Patientinnen und Patienten als Pflegefachmann, abends im Dorf.

Klar ist:

Wir leben länger – und unser Verständnis von Alter passt nicht mehr. Viele bleiben Jahrzehnte engagiert, ob in Teilzeit, im Ehrenamt oder in Vereinen. Identität und Sinn enden nicht mit dem letzten Lohnzettel. Gleichzeitig verschiebt sich der medizinische Schwerpunkt: weg vom einzelnen Akutereignis hin zum langfristigen Management von Mehrfacherkrankungen. Krebs, Herzinsuffizienz, Diabetes, Arthrose und beginnende kognitive Veränderungen treten oft parallel auf. Akutmedizin rettet Leben; koordinierte, chronische Versorgung erhält sie.


Unser „Gesundheitssystem“ funktioniert vielerorts als Reparaturbetrieb: Es greift ein, wenn etwas bricht – und tut das gut. Doch Reagieren allein reicht nicht. Prävention gehört ins Zentrum: regelmässige Checks, Impfungen, Kraft- und Gleichgewichtstraining, vernünftige Ernährung, Medikations-Reviews, soziale Teilhabe und sinnstiftende Aktivität. In der Spital zeigt sich der Nutzen täglich: Wer vor einem Eingriff kräftig ist, Unterstützung für Bewegung hat und einen verständlichen, schlanken Medikamentenplan, erholt sich besser. Das kostet wenig im Vergleich zu vermeidbaren Stürzen, Delirien und Notfällen – und zahlt sich in Lebensqualität aus. Trotzdem landen solche Leistungen im Budget zu oft am Rand.


Die Finanzierung spüre ich auf Station und im Dorf: Angehörige jonglieren Pflegeheimabklärungen, Spitex und Beruf. Notwendig ist eine transparente, solidarische Mischung, die Mittel- und Geringverdienende nicht bestraft: klare Obergrenzen für Eigenleistungen, echte Entlastung für pflegende Angehörige (Zeitgutschriften, finanzielle Unterstützung, sozialversicherungsrechtliche Anerkennung) sowie Anreize, die Ergebnisse belohnen – Mobilität, Selbstständigkeit, stabile Stimmung, weniger vermeidbare Hospitalisationen. Familien tragen heute zu viel Unsichtbares; der Preis heisst Erschöpfung.


Technologie kann einspringen, wenn sie Nähe stärkt statt ersetzt: Telemedizin spart im Winter Wege, Sensoren und Fernüberwachung erkennen Verschlechterungen früh, Algorithmen warnen vor riskanten Wechselwirkungen. Damit das alle erreicht, brauchen wir einfache Bedienung, Schulungen, Leihgeräte, verlässliche Datensicherheit und interoperable Systeme. Deshalb unterstütze ich E-ID und das elektronische Patientendossier (EPD): Eine sichere digitale Identität und ein verbindliches, interoperables Dossier machen Notfallinfos, Medikationspläne und Befunde mit Einwilligung dort verfügbar, wo sie gebraucht werden – vom Spital über die Hausarztpraxis bis zu Spitex und Apotheke. Das verhindert Fehler, stärkt Selbstbestimmung und schafft Kontinuität. Digitale Lösungen dürfen die Kluft nicht vertiefen; Gleiches gilt für den Zugang zu Prävention und Rehabilitation. Frühzeitige Physiotherapie, Ernährungsberatung und Psycho-Onkologie verändern Verläufe spürbar – genau diese Angebote werden jedoch zuerst gekürzt, wenn Budgets eng sind. Gesunde Langlebigkeit darf kein Luxus sein.


Gesundheit entsteht nicht nur im Spital. Sie wächst im Quartier: am Küchentisch, auf Gehwegen mit Bänken, im Chor, in der Männerriege, im Begegnungszentrum. Einsamkeit macht krank. Intergenerationelle Angebote, Freiwilligenarbeit, barrierefreie Wege und lebendige Vereine sind Teil der Versorgung. Jeder investierte Franken in soziale Verbindung spart mehrere in Akutbehandlung und verschiebt Heimeintritte nach hinten.


Gemeindeentwicklung gehört deshalb in dieselbe Runde wie Pflegeplanung.

Konkret heisst das:

Budgets schrittweise in Richtung Funktionserhalt und Selbstständigkeit verschieben; für multimorbide Menschen und Krebsüberlebende koordinierte Pfade schaffen – mit Ansprechperson, gemeinsamem Plan und erreichbarer Nummer; Angehörige mit Zeit, Geld und Absicherung stützen; digitale Gesundheit inklusiv gestalten – Standards, Schulungen, niederschwellige Zugänge;

Pflege- und Gesundheitsberufe durch Entwicklungsperspektiven, erweiterte Rollen und verlässliche Personalschlüssel binden; und endlich messen, was zählt: Gehstrecke, Sturzfreiheit, Belastbarkeit, Lebensfreude, Entlastung der Angehörigen – nicht nur Bettenbelegung und Fallzahlen.


Am Ende ist es eine kulturelle Entscheidung: Wollen wir Alter als verwalteten Rückzug – oder als Lebensphase, in der Vernunft, Technologie und Gemeinschaft Wirksamkeit möglichst lange erhalten?

Als Pflegefachmann kämpfe ich am Bett für Würde in schwierigen Stunden. Als Bürger im Dorf wünsche ich mir dass wir diese Würde früh finanzieren: bevor Einsamkeit hart wird, bevor der Sturz passiert und bevor Medikamente einander in die Quere kommen.


Ein persönlicher Kompass:

Meine Urgrossmutter in Kenia wurde über hundert. Ohne Hightech-Medizin – getragen von einem dichten Gesellschaftsnetz: mehrere Generationen rund um sie, tägliche Bewegung, frische Lebensmittel, Nachbarn, die hinschauten, sinnvolle Arbeit, verbindende Rituale. Dieses Netz heilte nicht, aber es dämpfte die Härte des Krankseins und bewahrte Funktion, Zugehörigkeit und Sicherheit lange vor einer Klinik.


In der Schweiz dürfen wir stolz sein auf unsere Spitzenmedizin. Wenn mehr Menschen den hundertsten Geburtstag aufrecht feiern sollen, müssen wir unser eigenes Netz dichter knüpfen: Gemeinschaft, Zweck, Bewegung und gegenseitige Fürsorge – eng verknüpft mit einer Versorgung, die Prävention finanziert, Angehörige trägt, Technik klug integriert und Menschen zu Hause stark hält.

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Ich erinnere mich, als ich auf einer chirurgischen Abteilung arbeitete: Immer wieder habe ich mich gefragt, warum sich manche Menschen im Spital so fest an ihrer Selbstständigkeit halten, während andere alles abgeben – selbst Dinge, über die sie zu Hause nicht einmal nachdenken. Diese Frage stellt sich mir oft gleich nach der ersten Morgenrunde, wenn der Tag noch frisch ist und die Routinen die Zimmer erst langsam erreichen.


Frau R. ist 91. Ihre Hände dünn, die Haut zart wie Seidenpapier. „Ich möchte meine eigenen Kleider anziehen“, sagt sie, als meine Studentin schon die Hilfe anbietet, ganz automatisch, wie man es lernt. Ein kurzer Blick zwischen uns. Wir nicken. „Gut. Wir sind da, falls etwas wackelt.“ Es dauert. Die Strümpfe fordern Geduld, der Arm in die Bluse findet erst nach dem zweiten Versuch den Weg. Ich sehe, wie meine Studentin unruhig wird – der Blick wandert zur Uhr. Das Frühstück kommt bald und doch geschieht etwas in diesen zehn Minuten, das mit keiner Infusion und keinem Medikament zu ersetzen ist: Frau R. setzt sich schliesslich angezogen an den Bettrand. Sie atmet durch. Die Stirn glättet sich. In ihren Augen liegt dieses stille Leuchten, das weniger mit Stoff als mit Selbstwirksamkeit zu tun hat. Sie hat es gemacht. Nicht perfekt, nicht schnell – aber selbst.


Im Zimmer daneben ist die Wirklichkeit eine andere. Unser jüngerer Patient mag nicht aufstehen. Bis nach neun schläft er, und als er wach ist, ruft er. Für Wasser. Für die Vorhänge. Für das Fenster. Für Dinge, die er zu Hause wie im Schlaf erledigen würde, ohne zu zögern. Es klingt höflich, fast wie Bestellen im Hotel: „Könnten Sie…? Würden Sie…?“ Es ist nicht Faulheit. Da ist Müdigkeit, ja, und vielleicht ein bisschen Angst. Aber vor allem ist da ein Ort, der wie ein All-inclusive-Wellnesshotel wirkt: alles verfügbar, immer jemand in der Nähe, der etwas übernimmt. Ich merke, wie schnell ein Haus, das eigentlich Heilung ermöglichen soll, in eine unsichtbare Choreografie rutscht: Wir bedienen, ihr lasst machen. Und mit jedem „Ich bringe Ihnen das“ wird das Bett bequemer, die Schwelle höher, die nächste Eigenleistung unwahrscheinlicher.


Zwischen diesen beiden Zimmern – zwischen „Ich kann selbst“ und „Macht ihr mal“ – spannt sich ein unsichtbares Seil. Auf der einen Seite Autonomie, auf der anderen das angenehme Loslassen. Die meisten von uns pendeln irgendwo dazwischen. Weil Kranksein erschöpft. Weil man sich gerne, wenigstens für heute, in jemanden hineinlehnt, der sagt: „Ich übernehme das.“ Das kann tröstlich sein. Und doch: Wenn wir zu lange liegen, verlernen wir das Aufstehen.  Und heute, in der Onkologie, erlebe ich diese Spannung genauso – andere Diagnosen, dieselbe stille Dynamik.


Ich beobachte, wie Sprache Rollen verteilt. „Wir machen jetzt die Morgentoilette“, sagen wir schnell, wenn es eilt, und meinen es freundlich. Aber es macht einen Unterschied, ob ich sage „Ich mache“ oder „Was möchten Sie selbst übernehmen? Ich bin hier und sichere ab.“ Es macht einen Unterschied, ob Kleider in Griffnähe sind oder im Schrank hinter zwei Türen. Ob ein Glas Wasser auf dem Tisch steht oder erst gerufen werden muss. Kleine Dinge lenken grosse Entscheidungen, ohne dass wir es merken. Die Krankenrolle, die die Gesellschaft bereitwillig anbietet – ausruhen, gehorchen, nichts riskieren – kann entlasten. Sie kann aber auch leise lehren, dass Initiative unerwünscht ist. Warten. Fragen. Nicht selbst anfangen.


Dabei weiss ich aus Erfahrung: Schon wenige Tage Inaktivität hinterlassen Spuren. Wer fünfmal am Tag nicht zum Fenster geht, wird sich am sechsten Tag unsicher fühlen. Wer nicht selbst die Strümpfe zieht, verliert nicht nur Fingerfertigkeit, sondern einen Teil des Satzes „Ich bin noch ich.“ Und das Spital selbst, so paradox es klingt, kann Verletzlichkeit produzieren: wenig Schlaf, wechselnde Routinen, viele Stimmen, eine Klingel, die alles kann – ausser motivieren.


Ich erzähle meiner Studentin von der Idee, das Spital nicht als Hotel zu denken, sondern als Trainingsraum. Ein gutes Hotel nimmt dir ab, was lästig ist. Ein gutes Spital gibt dir zurück, was du brauchst, um zu Hause wieder durch den Tag zu kommen. Beides hat Komfort – aber unterschiedliches Ziel. In der Schweiz gibt es Häuser, die Elemente aus der Hotellerie bewusst so einsetzen, dass Menschen möglichst viel selbst tun können: kurze Wege, klare Beschilderung, Essräume statt Tabletts am Bett, Wasser zum Selberholen, wenn es sicher ist. Komfort, der Fähigkeit ermöglicht. Diese Logik mag unspektakulär klingen, aber sie verändert Haltungen – bei uns, bei den Patientinnen und Patienten, bei Angehörigen.

Zurück zum Morgen. Bei Frau R. klopfen wir später an, um beim Aufstehen Richtung Frühstück zu sichern. „Ich habe es geschafft“, sagt sie, als wäre das ein Geheimnis zwischen uns. Ich grinse. „Ich habe es gesehen.“ Sie nimmt meinen Arm nicht, als ich ihn anbiete. Sie will nur, dass ich neben ihr gehe. Und genau das ist der Punkt: Orientierung ja, Abnahme nein. Sie will können. Und wir wollen, dass sie wieder kann.


Beim jungen Mann setze ich mich auf die Kante des Bettes. „Darf ich ehrlich sein? Zu Hause machen Sie diese Dinge selbst. Wollen wir hier gemeinsam anfangen? Ich bleibe in der Nähe, falls etwas wackelt.“ Er schaut zur Seite, dann zu mir. „Wenn Sie da sind…“ – „Ich bin da.“ Wir öffnen die Vorhänge zusammen. Es knarzt ein bisschen. Er füllt sich das Wasser. Der Boden fühlt sich unter den Hausschuhen zuerst fremd an, dann normaler. In solchen Momenten höre ich oft einen unhörbaren Klick, als würde irgendwo im Kopf ein Schalter umgelegt: Ach so, ich darf anfangen. Ich muss nicht warten, bis jemand sagt, dass ich darf.


Es gibt Tage, an denen sich die Waage nicht so leicht neigen lässt. Wenn ein Sturz droht oder der Kreislauf schwankt oder Schmerzen jede Bewegung teuer machen. Sicherheit geht vor, keine Frage. Aber Sicherheit entsteht nicht automatisch durch Stillstand. Sie entsteht durch Begleitung, durch vorausschauende kleine Schritte, durch Routen, die wir abstecken: bis zum Fenster, bis zum Waschbecken, eine Runde um die Station. Durch Schuhe, die nicht rutschen. Durch Licht, das nicht blendet. Durch Griffe, die man erreicht, ohne zu turnen. Alles banal – bis man es braucht.


Ich merke, wie sehr es hilft, Erfolge sichtbar zu machen. Nicht nur Laborwerte, sondern auch: heute selbst angezogen; heute zweimal bis zum Gang; heute ohne Rufen Wasser geholt. Wenn wir solche Dinge laut sagen, wenn wir sie feiern, selbst nur mit einem Nicken, merken Menschen: Das zählt. Es lohnt sich. Das ist nicht ein Extra, sondern Teil der Behandlung. Es verändert auch uns: Wer Erfolge sucht, spricht anders. Wer anders spricht, löst anderes aus.

Manchmal erzähle ich von den Bewegungstagen, die es in Schweizer Spitälern gibt. Von Initiativen, die Teams ermutigen, Patientinnen und Patienten regelmässig „aus dem Pyjama“ zu bringen – nicht als Event, sondern als Selbstverständlichkeit. Von Ideen wie einem „Aktivitäts-Board“ im Stationszimmer, auf dem wir ankreuzen, was heute schon geklappt hat: sitzen, stehen, gehen, anziehen, waschen. Das klingt spielerisch, ist aber tief ernst: Jeder Haken mehr ist ein Stück Unabhängigkeit.


Meine Studentin fragt, ob wir damit nicht manche überfordern. Es ist eine gute Frage. „Wir überfordern, wenn wir Ziele fremdbestimmen“, sage ich. „Wir fördern, wenn wir fragen: Was trauen Sie sich zu? Was möchten Sie ausprobieren? Ich stehe daneben. Wenn es zu viel ist, stoppen wir.“ Das ist keine wilde Philosophie, sondern Alltag in kleinen Dosen: Ich starte, du sicherst. Du startest, ich sichere. Irgendwann startest du, und ich schaue durch die offene Tür.

Gegen Mittag treffe ich Frau R. im Aufenthaltsraum. Sie sitzt aufrecht, das Besteck ordentlich in der Hand, als hätte sie geübt. Vielleicht hat sie das. Vielleicht hat sie gestern geübt und vorgestern. Vielleicht übt sie seit neunzig Jahren, sich selbst zu bleiben, egal, wo sie ist. Der junge Mann kommt später – ein wenig später, immerhin – und wählt sich das Wasser selbst. Er lacht, als das Glas zu voll geworden ist. „Ich habe es unterschätzt“, sagt er. „Passiert“, sage ich. „Morgen schaffst du es auf die Linie unter dem Rand.“


Wenn ich abends die Dokumentation abschliesse, ist es verlockend, nur die Zahlen zu sehen: Puls, Temperatur, Druck. Aber irgendwo zwischen den Zeilen stehen die anderen Werte: Selbst angefangen. Hilfe nur punktuell. Weniger Klingeln. Besserer Schlaf. Grössere Schritte. Die Medizin braucht Zahlen, ja. Der Mensch braucht Erfahrungen, die sagen: Ich wirke noch. Man kann diesen Satz nicht verordnen; man muss ihm Platz machen.


Beide Zimmer von heute bleiben mir noch eine Weile im Kopf. Das eine, in dem Zeit das eigentliche Medikament war. Das andere, in dem ein kleiner, gemeinsamer Anfang eine grosse Erwartung gedreht hat. Ich wünsche mir, dass wir Spitäler denken wie Brücken: Sie tragen dich von einer verletzlichen Stelle zur nächsten festen Stufe. Und auf dieser Brücke soll es bequem sein, ja – aber so, dass du beim Gehen stärker wirst, nicht schwächer.


Vielleicht hast du selbst schon im Spital gelegen. Vielleicht erinnerst du dich daran, wie es war, die Klingel in der Hand zu halten und zu überlegen, ob du drückst oder aufstehst. Vielleicht warst du eher die Kämpferin, die morgens als Erste angezogen im Stuhl sass. Vielleicht eher der Gast, der sich für heute gerne hat bedienen lassen. Beides ist verständlich. Entscheidend ist, dass wir uns – Pflege, Ärztinnen, Therapeuten, Angehörige und Patientinnen und Patienten – immer wieder dieselbe Frage stellen: Was kann ich heute selbst tun, mit jemandem an meiner Seite?


An manchen Tagen ist die Antwort klein: Socken anziehen. Einmal zum Fenster gehen. Wasser holen. An anderen Tagen ist sie grösser: duschen, Treppe, Essraum. Autonomie wächst selten im Sprint. Sie entsteht in zehn langsamen Minuten am Morgen, in denen eine 91-Jährige eine Bluse schliesst. In zwei Schritten am Mittag, die erst zögern und dann fester werden. In einem Lächeln am Abend, das sagt: Ich habe mehr getan, als ich dachte.

Und wenn ich die Station verlasse und die Tür hinter mir ins Schloss fällt, nehme ich diesen Satz mit wie eine leise Erinnerung: Komfort soll Fähigkeit ermöglichen. Alles andere ist nett – aber nicht heilend.

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