Von Sickcare zu Wellcare Langlebigkeit als Chance: Funktion erhalten, Isolation vermeiden
- ignatius ounde
- 23. Sept.
- 3 Min. Lesezeit

Unsere Gesellschaft altert. Das ist bekannt – und doch entfaltet sich darin eine Dynamik, die wir erst beginnen zu verstehen. Die Babyboomer treten ins Rentenalter ein, sind aber nicht „alt“ im klassischen Sinn: Viele bleiben gesund, aktiv und voller Energie. Sie haben jahrzehntelang gearbeitet und tragen die Haltung in sich: Arbeit ist Leben. Ich erlebe diesen Wandel aus zwei Blickwinkeln: morgens am Bett meiner Patientinnen und Patienten als Pflegefachmann, abends im Dorf.
Klar ist:
Wir leben länger – und unser Verständnis von Alter passt nicht mehr. Viele bleiben Jahrzehnte engagiert, ob in Teilzeit, im Ehrenamt oder in Vereinen. Identität und Sinn enden nicht mit dem letzten Lohnzettel. Gleichzeitig verschiebt sich der medizinische Schwerpunkt: weg vom einzelnen Akutereignis hin zum langfristigen Management von Mehrfacherkrankungen. Krebs, Herzinsuffizienz, Diabetes, Arthrose und beginnende kognitive Veränderungen treten oft parallel auf. Akutmedizin rettet Leben; koordinierte, chronische Versorgung erhält sie.
Unser „Gesundheitssystem“ funktioniert vielerorts als Reparaturbetrieb: Es greift ein, wenn etwas bricht – und tut das gut. Doch Reagieren allein reicht nicht. Prävention gehört ins Zentrum: regelmässige Checks, Impfungen, Kraft- und Gleichgewichtstraining, vernünftige Ernährung, Medikations-Reviews, soziale Teilhabe und sinnstiftende Aktivität. In der Spital zeigt sich der Nutzen täglich: Wer vor einem Eingriff kräftig ist, Unterstützung für Bewegung hat und einen verständlichen, schlanken Medikamentenplan, erholt sich besser. Das kostet wenig im Vergleich zu vermeidbaren Stürzen, Delirien und Notfällen – und zahlt sich in Lebensqualität aus. Trotzdem landen solche Leistungen im Budget zu oft am Rand.
Die Finanzierung spüre ich auf Station und im Dorf: Angehörige jonglieren Pflegeheimabklärungen, Spitex und Beruf. Notwendig ist eine transparente, solidarische Mischung, die Mittel- und Geringverdienende nicht bestraft: klare Obergrenzen für Eigenleistungen, echte Entlastung für pflegende Angehörige (Zeitgutschriften, finanzielle Unterstützung, sozialversicherungsrechtliche Anerkennung) sowie Anreize, die Ergebnisse belohnen – Mobilität, Selbstständigkeit, stabile Stimmung, weniger vermeidbare Hospitalisationen. Familien tragen heute zu viel Unsichtbares; der Preis heisst Erschöpfung.
Technologie kann einspringen, wenn sie Nähe stärkt statt ersetzt: Telemedizin spart im Winter Wege, Sensoren und Fernüberwachung erkennen Verschlechterungen früh, Algorithmen warnen vor riskanten Wechselwirkungen. Damit das alle erreicht, brauchen wir einfache Bedienung, Schulungen, Leihgeräte, verlässliche Datensicherheit und interoperable Systeme. Deshalb unterstütze ich E-ID und das elektronische Patientendossier (EPD): Eine sichere digitale Identität und ein verbindliches, interoperables Dossier machen Notfallinfos, Medikationspläne und Befunde mit Einwilligung dort verfügbar, wo sie gebraucht werden – vom Spital über die Hausarztpraxis bis zu Spitex und Apotheke. Das verhindert Fehler, stärkt Selbstbestimmung und schafft Kontinuität. Digitale Lösungen dürfen die Kluft nicht vertiefen; Gleiches gilt für den Zugang zu Prävention und Rehabilitation. Frühzeitige Physiotherapie, Ernährungsberatung und Psycho-Onkologie verändern Verläufe spürbar – genau diese Angebote werden jedoch zuerst gekürzt, wenn Budgets eng sind. Gesunde Langlebigkeit darf kein Luxus sein.
Gesundheit entsteht nicht nur im Spital. Sie wächst im Quartier: am Küchentisch, auf Gehwegen mit Bänken, im Chor, in der Männerriege, im Begegnungszentrum. Einsamkeit macht krank. Intergenerationelle Angebote, Freiwilligenarbeit, barrierefreie Wege und lebendige Vereine sind Teil der Versorgung. Jeder investierte Franken in soziale Verbindung spart mehrere in Akutbehandlung und verschiebt Heimeintritte nach hinten.
Gemeindeentwicklung gehört deshalb in dieselbe Runde wie Pflegeplanung.
Konkret heisst das:
Budgets schrittweise in Richtung Funktionserhalt und Selbstständigkeit verschieben; für multimorbide Menschen und Krebsüberlebende koordinierte Pfade schaffen – mit Ansprechperson, gemeinsamem Plan und erreichbarer Nummer; Angehörige mit Zeit, Geld und Absicherung stützen; digitale Gesundheit inklusiv gestalten – Standards, Schulungen, niederschwellige Zugänge;
Pflege- und Gesundheitsberufe durch Entwicklungsperspektiven, erweiterte Rollen und verlässliche Personalschlüssel binden; und endlich messen, was zählt: Gehstrecke, Sturzfreiheit, Belastbarkeit, Lebensfreude, Entlastung der Angehörigen – nicht nur Bettenbelegung und Fallzahlen.
Am Ende ist es eine kulturelle Entscheidung: Wollen wir Alter als verwalteten Rückzug – oder als Lebensphase, in der Vernunft, Technologie und Gemeinschaft Wirksamkeit möglichst lange erhalten?
Als Pflegefachmann kämpfe ich am Bett für Würde in schwierigen Stunden. Als Bürger im Dorf wünsche ich mir dass wir diese Würde früh finanzieren: bevor Einsamkeit hart wird, bevor der Sturz passiert und bevor Medikamente einander in die Quere kommen.
Ein persönlicher Kompass:
Meine Urgrossmutter in Kenia wurde über hundert. Ohne Hightech-Medizin – getragen von einem dichten Gesellschaftsnetz: mehrere Generationen rund um sie, tägliche Bewegung, frische Lebensmittel, Nachbarn, die hinschauten, sinnvolle Arbeit, verbindende Rituale. Dieses Netz heilte nicht, aber es dämpfte die Härte des Krankseins und bewahrte Funktion, Zugehörigkeit und Sicherheit lange vor einer Klinik.
In der Schweiz dürfen wir stolz sein auf unsere Spitzenmedizin. Wenn mehr Menschen den hundertsten Geburtstag aufrecht feiern sollen, müssen wir unser eigenes Netz dichter knüpfen: Gemeinschaft, Zweck, Bewegung und gegenseitige Fürsorge – eng verknüpft mit einer Versorgung, die Prävention finanziert, Angehörige trägt, Technik klug integriert und Menschen zu Hause stark hält.



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